Europäische Urbanisierung (1000-2000). Dieter Schott. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dieter Schott
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846340257
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produziert und so Selbstverstärkungswirkungen entfaltet, verfestigt sich der einmal eingeschlagene Pfad. In der Folge erscheinen Entscheidungsspielräume den Akteuren als erheblich eingeschränkt, was die Pfadabhängigkeitsforschung als „lock-in“ bezeichnet. Diese Strahlkraft von Geschichte in unsere Gegenwart verweist darauf, dass wir die Strukturen, mit denen es heutige Stadtentwicklung und Umweltpolitik zu tun hat, nur angemessen verstehen können, wenn wir sie in ihrer langfristigen Genese analysieren und erklären.

      An diesem Punkt setzt dieses Studienbuch an: Es möchte deutlich machen, wie die heutigen Strukturen, die unsere europäischen Städte als gebaute Entität prägen, sich langfristig formiert haben. Diese Langfristperspektive wird auch zeigen, dass die europäischen Städte schon immer ihre Umwelt erheblich verändert und umgestaltet haben, wobei Dauerhaftigkeit und Reversibilität dieser Eingriffe unterschiedlich waren.

      Der Gang durch die Geschichte der europäischen Stadt, auf den dieses Buch seine Leser mitnehmen möchte, wird unter einer besonderen Perspektive stehen, die aus der eingangs erläuterten Problematik erwächst: Im Zentrum wird das Stadt-Umwelt-Verhältnis stehen, konkreter die Frage, wie die Stadt als „kollektiver Konsument“ von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie, Rohstoffen etc. diese Ressourcen beschafft und damit auf ihre Umwelt, ihr Umland eingewirkt hat. Zentral wird weiterhin die „Kehrseite“ dieses Aspektes sein: In der Verwertung von Nahrungsmitteln, Wasser, Energie und Rohstoffen produziert die Stadt „Restprodukte“ dieses Konsums: Fäkalien, Abwasser, Abfall, Rauch, Asche, aber auch gewerbliche Produkte einer höheren Fertigungsstufe. Diese Materialien können nur sehr bedingt auf städtischem Territorium gelagert werden, zum einen aus Platzmangel, zum anderen aus hygienischen Gründen. Städte waren und sind also darauf angewiesen, ihre Stoffwechselprodukte an ihre Umwelt abzugeben und sie dadurch zu „entsorgen“ bzw. einer neuen, anderen Nutzung zuzuführen, sie zu „recyceln“. Gewerbliche Produkte werden, soweit sie nicht innerhalb der Stadt konsumiert werden, an die Umwelt über Handel abgegeben, um damit wieder andere benötigte Materialien für den städtischen Stoffwechsel zu erwerben. Diese Strukturnotwendigkeiten der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und deren Sicherung [<<15] einerseits, der Entsorgung der Stoffwechselprodukte und damit Unschädlichmachung für die städtische Bevölkerung andererseits sind gewissermaßen universale Grundkonstanten städtischer Existenz über alle historischen Epochen hinweg.

      Die auch in Irsiglers Definition akzentuierte funktionale Spezialisierung und Arbeitsteilung bedeutet, dass ein variabler, aber in der Regel nennenswerter Teil der Stadtbevölkerung nicht oder nur teilweise mit Landwirtschaft befasst ist. Die Stadt ist daher Netto-Konsument von Agrarprodukten, die nicht auf ihrem Territorium produziert werden können. Aus dieser Tatsache ergibt sich unabweisbar der Zwang, diese primär konsumierende Bevölkerung aus den Überschüssen anderer Gebiete zu versorgen. Historisch unterschiedlich wurde nun aber jeweils die Frage gelöst, wie diese Versorgung konkret organisiert, gesichert wurde. Hier spielten der Stand der Agrartechnik und der Agrarverfassung, die naturräumliche Lage, die Entwicklung der Transporttechnik, aber auch Fragen der politischen Herrschaft bzw. der wirtschaftlichen Dominanz über Versorgungsgebiete eine zentrale Rolle. [<<16]

      Fokus 1: Die Stadt und ihr Stoffwechsel

      Abb 1 Gesellschaftlicher Stoffwechsel der Stadt [<<17]

      Was jeweils konkret als „Umland“ zu definieren ist, ist historisch und geografisch variabel. Für die flandrischen und niederländischen Städte des späten Mittelalters und [<<18] der frühen Neuzeit waren die Getreideanbaugebiete rund um die Ostsee Umland in dem Sinne, dass die Getreideexporte etwa der Gebiete entlang der Weichsel für die Brotversorgung von Brügge, Antwerpen oder Amsterdam bedeutsam waren (vgl. Kap. 4.3, S. 76 u. Kap. 6.5, S. 141). Das konkrete Ausmaß des Umlands hing daher ab von der spezifischen Ressource, ihrem Wert, ihrer Transportierbarkeit sowie dem Stand der Transporttechnik und der Lage der Stadt. Heute ist in vieler Hinsicht die ganze Welt Umland unserer europäischen Städte, wozu wesentlich die radikale Senkung von Transport- und Transaktionskosten der modernen Logistik beigetragen hat. Ein Blick auf die Herkunftsorte der Waren in unseren größeren Supermärkten reicht, um die heutige Globalität des Umlandes einsichtig zu machen.