Religionsphilosophie. Martin Hailer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Hailer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846341834
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Was ich erkenne, erkenne ich aber anhand von Gesetzmäßigkeiten, eben indem ich es messe, wiege oder sonstwie zur Erfahrung bringe. In Sachen Gotteserkenntnis stellen sich dann gleich zwei Schwierigkeiten: Erstens, kann er überhaupt unter die Gegenstände tatsächlicher oder möglicher Erfahrung gerechnet werden? Und zweitens, wäre Gott noch Gott, wenn wir ihn so beobachten, wie wir beobachten können, nämlich anhand von Gesetzmäßigkeiten? Beide Fragen muss man im Sinne Kants verneinen. Um mit der zweiten zu beginnen: Was ich anhand von Gesetzmäßigkeiten beobachte, kann nicht frei sein. Ich sehe ja Regelmäßigkeiten und Anwendungsfälle von Naturgesetzen, ich sehe also das, was Kant an vielen Stellen den ›Naturmechanism‹ nennt. Gott als Anwendungsfall von Gesetzen und dem ›Naturmechanism‹ unterliegend? Mit der Idee, dass Gott frei, allmächtig usw. ist, geht das offenbar nicht zusammen. Zur ersten Schwierigkeit ist zu sagen: Wäre Gott ein Gegenstand möglicher oder tatsächlicher Erfahrung, dann wäre er Teil der Welt. Das aber ist ein direkter Widerspruch zur Basisannahme über Gott, gleich ob sie aus griechisch-philosophischer oder aus biblischer Richtung kommt: Gott steht der Welt gegenüber, er ist kein Teil von ihr.

      So bleibt nur der Schluss: Ist Gott, so ist er kein Teil der Welt. Deshalb kann es auch keine Kenntnis über ihn geben. Die philosophischen Gotteslehren, die viel über ihn zu wissen meinten, sind dann aber gänzlich falsch. Sie geben vor, in einem Bereich Kenntnisse zu haben, in dem man aus den eben kurz genannten Gründen keine Kenntnis haben kann. Diese Vorspiegelung von Kenntnis nennt Kant Dogmatismus. Das eben gegebene Zitat heißt im Ganzen und aus diesen Erläuterungen in eckigen Klammern ergänzten Satz so:

      »Ich mußte also das [falsche, nur vorgespiegelte] Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen [denn etwas, was ich erkenne, wäre nicht Gegenstand meines Glaubens], und der Dogmatismus der Metaphysik, d.i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft [ohne die beschriebene Selbstkritik] fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist [und damit Wissen behauptet, wo es nichts zu wissen gibt].« (KrV B XXX)

      Dieses Ergebnis war (und ist) ein harter Schlag: Selbstkritische Vernunft erkennt, dass es in Sachen Gott nichts zu wissen gibt. Kant baut dieses Argument aus, indem er – im Gestus schon fast genüsslich und nicht ohne Humor – einen Gottesbeweis nach dem anderen (vgl. unten Kap. 4) zerpflückt und für untauglich erklärt. (KrV B 611–671) Ist also das das Ergebnis: Rationale Theologie ist aus und vorbei, weil sie etwas zum weltlichen Gegenstand machen muss, was nun mal kein weltlicher Gegenstand ist? Kant ist so gelesen worden und (nicht nur) das hat ihm das Epitheton ›Alleszermalmer‹ eingebracht. Und doch stimmt es nicht. Es gehört zur Größe – oder, wenn man unter die Kritiker seines Werks zählt, die es selbstverständlich bis heute gibt – zur Inkonsequenz seines Werks, dass er zwischen der Idee Gottes und einer ihn beschreibenden Theorie unterscheidet. Letztere kann es nicht geben, die erstere ist sehr wohl nötig. Zu dieser auf den ersten Blick überraschenden Wendung führen zwei Gedankenspuren:

      (1) Die theoretische – bei Kant: die reine – Vernunft braucht die Idee Gottes. Denn sie muss annehmen, dass ihre Erkenntnis sich irgendwie erfolgreich auf Wirklichkeit bezieht. Das kann sie nicht selbst kontrollieren und deswegen muss sie setzen, dass es eine Größe gibt, die sowohl die Vernunft als auch die gesamte Welt und ihren Inhalt kennt. Das kann kein Teil der Welt sein und muss also Gott sein. – Notabene: Die Vernunft weiß nicht, ob es diesen Gott gibt. Sie muss es um ihrer selbst willen als gültig behaupten und also setzen. Kant nennt dies Gott als ›regulative Idee‹ und achtet sorgfältig darauf, aus dieser Idee Gottes keine Theorie über ihn werden zu lassen. (KrV B 672 u.ö.)

      (2) In einem Gedankengang, der so in der Kritik der reinen Vernunft nicht angelegt ist, kommt Kant im Rahmen der Kritik der praktischen Vernunft auf Gott zu sprechen. Er führt dort aus, dass die einzig akzeptable Ethik eine ist, die aus Vernunft agiert. Ich soll nur und ausschließlich das tun, was die Vernunft mir gebietet. Kant nennt das: Pflicht. Und nun wird, wer ausschließlich pflichtmäßig lebt, die Erfahrung machen, dass nicht er, sondern die Schufte in der Welt den Erfolg und den Lebensgenuss davon tragen. Soll er also aufhören, pflichtgemäß zu leben und wie die anderen mittels kleinerer und größerer Gaunereien dem Glück hinterherjagen? Kant lehnt das ab und sagt: Wenn es vernunftnotwendig ist, nach der Pflicht zu leben, dann ist es auch vernunftnotwendig anzunehmen, dass eine Welt entsteht, die dem Leben aus der Pflicht entspricht. Da die – gewiss nicht allzu vielen – Pflichtmenschen diese Welt aber nicht hervorbringen können, ist es vernunftnotwendig anzunehmen, dass es eine Instanz gibt, die diese Welt hervorbringt. Das muss Gott sein. (KpV A 226) – Wiederum ist das nur eine Idee, eine Setzung der Vernunft und kein Beweis.

      In beiden Fällen kommt es für Kant also darauf hinaus: Eine beschreibende Theorie Gottes kann es nicht geben – hier muss die Vernunft von einer lange gepflegten Tradition Abschied nehmen und so weit ist die Rede vom ›Alleszermalmer‹ gewiss schon richtig. Aber es bleibt nicht beim schneidenden Nein, vielmehr sieht die Vernunft ein, dass sie um ihrer selbst willen, in theoretischer wie in praktischer Hinsicht die Idee Gottes braucht.

      Wo stehen wir? Zwei Antworten auf dieselbe Grundfrage sind in aller Kürze vorgestellt worden: Wie kann ich vom letzten Grund, vom höchsten Wesen sprechen, wenn es doch zum letzten Grund oder höchsten Wesen gehört, über mein Begreifenkönnen hinaus zu sein? Platon antwortete darauf, indem er keine Gottestheorie entwarf, sondern von einer Vision sprach, die zu erlangen sehr mühsam ist und die überdies nur als Moment im Lebensweg eines Philosophen verstehbar wird und also isoliert überhaupt keinen Sinn machen würde: Diese rationale Theologie ist nur in Verschränkung mit der Philosophie der Religion des Philosophen verstehbar – und umgekehrt. Bei Kant liegen die Dinge anders, und doch gibt es eine überraschende Ähnlichkeit: Aus Gründen der Erkenntnistheorie räumte er mit einer rationalen Theologie als Theorie über Gott radikal auf; den Gedanken einer Vision Gottes würde er wohl als Geisterseherei abgetan haben. Und doch ist, wie eben zu sehen war, die Idee Gottes für die selbstkritische Vernunft ganz unverzichtbar. In ihrer zweiten Variante, also mit Blick auf die Kritik der praktischen Vernunft, steckt die relative Nähe zu Platon: Ein pflichtgemäß Handelnder lebt mit der – unbeweisbaren – Annahme, dass Gott existiert. Seine Ethik und damit sein alltäglicher Weltumgang ruhen auf dieser Annahme auf. Es ist keine Gewaltsamkeit zu sagen, dass es sich dabei um so etwas wie die Religion des Philosophen kantischer Prägung handelt.

      Beide Male haben wir es mit einer rationalen Theologie zu tun, die deren Grundanliegen – wir sollen mit philosophischen Argumenten von Gott reden – teilt, die das in der Durchführung aber auf eigentümliche Weise durchstreicht und verändert: im nur im Bild auszusagenden Verweis auf den beschwerlichen Lebensweg des Philosophen und in der Selbstkritik, die alle Gottesrede auf ein Postulat, er existiere, zusammendrängt. Das mag als ein erstes Arbeitsergebnis in Sachen rationaler Theologie durchgehen. Die Bandbreite der klassischen Lösungen zu diesem Thema ist freilich noch um einiges größer. Zum Schluss dieses Kapitels soll deshalb noch eine Position zu Wort kommen, die im 20. Jahrhundert zu einiger Prominenz gelangte und auch in den gegenwärtigen Diskussionen um eine Erneuerung der rationalen Theologie (vgl. Kap. 9) diskutiert wird – wenn auch vornehmlich kritisch.

      c) Wittgenstein: Vom wirklich Wichtigen lässt sich nichts sagen

      Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gehört zu den ganz wenigen Denkern, die gleich zwei namhafte Richtungen des Philosophierens angestoßen oder doch mit wesentlichen Impulsen versehen haben. Sein Frühwerk ›Tractatus Logico-Philosophicus‹ (1921/1922) ist ein Schlüsselbuch für diejenige Philosophie, die sich der formalen Logik und einem engen Bezug zur Empirie verschrieben hat und für die die klassischen Themen der Metaphysik und auch der rationalen Theologie fern und absurd klingen. Nach gedanklichen Umbruchphasen arbeitete Wittgenstein bis zwei Jahre vor seinem Tod an den ›Philosophischen Untersuchungen‹ (erschienen postum 1952). Dieses Werk hat eine ganz andere Richtung der Philosophie inauguriert, die Philosophie der normalen Sprache. Die Philosophischen Untersuchungen haben in der Theologie – vor allem im evangelischen Bereich – teilweise interessierte Aufnahme gefunden. Das ist durchaus erstaunlich, weil religiöse Themen in ihnen so gut wie keine Rolle spielen. Durchaus anders ist das im Tractatus. Für die Frage nach der Darstellbarkeit des Nicht-Darstellbaren ist ein Blick