Religionsphilosophie. Martin Hailer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Hailer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846341834
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einer Gesellschaft ausüben? Bis auf sehr wenige Ausnahmen bilden alle Religionen Gemeinschaftsformen aus, bilden religionsspezifische Rollen und Riten aus, haben Institutionen, Gebäude usw. Die Religionssoziologie konzentriert sich ausschließlich hierauf. Nicht ganz selten hat religionssoziologische Literatur einen säkularistischen und religionskritischen Grundton, der aus der Geschichte der Disziplin erklärbar ist. Arbeiten von Rang erliegen ihm nicht einfach, sondern vermögen ihn kritisch zu reflektieren.

      Religionspsychologie: ›Religiös sein‹ oder ›glauben‹ hat auf die eine oder andere Weise mit dem Erleben einzelner Menschen zu tun. Religionspsychologie erforscht dies Erleben. Sie fragt nach typischen Erfahrungsinhalten, sie nimmt die Entwicklung des Erlebens im Verlauf des Lebens in den Blick und sie fragt gelegentlich auch, ob sich die individuellen Erfahrungsgehalte bei unterschiedlichen Religionen vergleichen lassen. Dabei ist die Religionspsychologie eine empirische Wissenschaft, die also aus einer gewissen Distanz beobachtet und beschreibt. Immer wieder greifen sowohl Verteidiger der Religion als auch ihre Gegner zu religionspsychologischen Erkenntnissen, das aber ist bereits eine Indienstnahme, die den rein beschreibenden Zugang verlässt.

      Eine gewisse Parallele dazu weist eine neue Disziplin auf, die unter dem Namen Neurotheologie bekannt wurde: Ihr geht es darum, diejenigen Gehirnaktivitäten namhaft zu machen, die bei Menschen vorliegen, die religiös empfinden. Irreführend ist der Name deshalb, weil es oft nicht um Theologie – also um die Selbstbeschreibung eines Glaubens, s.u. – geht, sondern um Religionskritik, denn mit dem Aufweis von Neuronenaktivitäten bei religiösen Empfindungen geht häufig die Behauptung einher, die religiöse Empfindung beruhe nur auf dieser Aktivität und Gott sei also eine Erfindung des Gehirns. Dieser Anspruch wird weiter unten im Kapitel über den Neuen Atheismus diskutiert.

      Religionswissenschaft: Religionen sind für diese Wissenschaft Gegenstände wie es z.B. die Geschichte für die Geschichtswissenschaft ist. Sie sind Objekte, die aus der Distanz dessen beschrieben werden, der ihnen nicht angehört, der aber gleichwohl verstehen will, wie sie funktionieren. Sie bildet, auch in historischer Perspektive, den weitesten Rahmen der bislang benannten Disziplinen. Ihre Methoden sind größtenteils historisch, häufig auch philologisch, weil zur Kenntnis einer Religion immer die Kenntnis ihrer normativen Texte in der jeweiligen Ursprache gehört. Häufig arbeiten Religionswissenschaftler auch religionsvergleichend, wenn sie z.B. Parallelen zwischen dem Mönchtum im Buddhismus und dem im Christentum herausarbeiten. Entscheidend ist bei der großen Vielfalt von Methoden und möglichen Gegenständen jedoch, dass es sich um eine Außenperspektive auf den jeweiligen Gegenstand handelt. Erwägungen, die vor allem in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts angestellt wurden, ob Religionswissenschaft nicht die Theologie aller Religionen zusammen sei, werden heute ganz überwiegend nicht mehr geteilt.

      Theologie: Wer sie betreibt, befindet sich in der Innenperspektive einer Religion. Die Wahrheitsbehauptungen der Religion werden erforscht, erklärt, dargestellt und verteidigt. Das kann durchaus in kritischer Perspektive stattfinden, so ist ein christlicher Theologe durchaus nicht gesonnen, alles, was z.B. kirchenleitende Persönlichkeiten sagen, einfach zu übernehmen. Seine Loyalität gilt dem, was er als Grundlage der Religion erkannt hat. Für das Gespräch mit der Religionsphilosophie ist aus christlicher Perspektive besonders die systematische Theologie wichtig: Im engen Austausch mit anderen theologischen Disziplinen – besonders mit den biblischen Theologien und der historischen Theologie – erklärt sie die Grundwahrheiten des Christentums in ihrem Zusammenhang und erläutert sie so, dass Kirche und Theologie als kritische gegenwärtige Gesprächspartner auftreten können.

      Religionsphilosophie ist keine dieser Disziplinen. Vielmehr befasst sie sich mit Themen der Religion im Rahmen der im letzten Abschnitt kurz entwickelten Leitlinien. Sie beansprucht strenge Allgemeinheit für ihre Überlegungen und sie nimmt aus dem großen Themenpool ›Religion‹ das wahr, was für andere mit Religion befasste Disziplinen wichtig ist, ohne dass diese es im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen adäquat erfassen könnten. Verwirrenderweise gibt es dabei aber immer wieder Überschneidungen und Überlappungen: So ist etwa der Weg von einer religionssoziologischen Entdeckung zu der Behauptung, das sage etwas über die Wahrheit von Religion, mitunter sehr kurz. Wer aber an die Beobachtung eines gesellschaftlichen Zustands eine Erörterung über die Wahrheit von Religion anschließt, hat von der beobachtenden Perspektive des Soziologen bereits in den Modus dessen gewechselt, der sich angesichts von Religion die Wahrheitsfrage vorlegt.

      Diese Perspektive – etwas, was eine Religion sagt oder das ›Ganze‹ der Religion sei wahr oder falsch – ist ein Modus des Sprechens, der von den hier angesprochenen Disziplinen streng genommen nur Theologie und Religionsphilosophie zukommt. Religionswissenschaft beschreibt Bräuche, heilige Texte, Riten oder andere Aspekte von Religionen – aber sie tut das mit dem Pathos der Distanz, als beschreibende und erforschende Disziplin, die von außen herzutritt. Dass das mit größter Sprach- und Sachkenntnis einhergehen sollte, ist dazu kein Widerspruch. Beobachten aber und bekennendes Teilnehmen sind zweierlei. Das gilt auch dann, wenn die Beobachtung durch intensives Hereingehen, Mitleben und Teilhabe an den sozialen Vollzügen der beobachteten Religion erfolgt. Entscheidend ist letztlich die Perspektive, aus der betrachtet wird, und hier ist die Grenze zwischen der beobachtenden Perspektive und der des bekennenden Mitvollzugs zwar immer wieder verwischt worden, aber letztlich doch immer zu erkennen. Ähnliches gilt für Religionssoziologie und -psychologie auch.

      Damit lässt sich der eigentümliche Ort der Religionsphilosophie noch etwas besser bestimmen, und zwar durch eine doppelte Entgegensetzung: Im Gegensatz zu Religionssoziologie, Religionspsychologie und Religionswissenschaft ist sie keine beobachtende Disziplin, sondern erhebt explizite Wahrheitsansprüche in Sachen Religion. Im Gegensatz zur Theologie aber tut sie das nicht aus der bezeugenden Perspektive einer Religion, sondern mit den strengen Allgemeinheitskriterien der Philosophie. Dies ist der eigentümliche Ort der Religionsphilosophie, und man kann ihn durchaus als einen Zwischenzustand oder als einen Ort auf der Grenze beschreiben. Nach Paul Tillich (1886– 1965) ist die Grenze freilich der fruchtbare Ort der Erkenntnis.

      Um was geht es in der Religionsphilosophie: rationale Theologie oder Philosophie der Religion?

      Auch hier dürfte sich die Grenze als der fruchtbare Ort der Erkenntnis erweisen. Diesmal ist es allerdings nicht die Grenze zwischen Disziplinen, sondern die zwischen zwei großen Traditionen innerhalb der Religionsphilosophie selbst. Denn was in ihr überhaupt zum Gegenstand werden kann und soll, ist umstritten. Auf die Frage hätte ein Großteil der europäischen Tradition – einschließlich klangvollster Namen – mit wenig Zögern geantwortet: Gegenstand der Religionsphilosophie ist Gott. Gott ist das höchste, absolute Wesen, allwissend, allmächtig, einzig, in sich einfach, unveränderlich und perfekt. Die Aufgabe der Religionsphilosophie ist, das mögliche Wissen von diesem höchsten Wesen zu eruieren, gegen Einwände zu verteidigen und darzustellen. Das kann sehr verschiedene Formen annehmen, die miteinander kräftig im Streit stehen, so etwa die, ob Religionsphilosophie nicht über Götter (im Plural) zu sprechen hätte und nicht nur über die Vermutung, es gebe letztlich nur ein höchstes Wesen. Einigkeit aber bestand und besteht darin: Letztlich hat die Religionsphilosophie einen erhabenen, höchsten und letzten Gegenstand.

      Für diese Position stehen weite Teile des Denkens der Antike, so etwa die auf Platon und auf Aristoteles zurückgehenden Traditionen samt ihrer Adaptionen im jüdischen, christlichen und muslimischen Denken. Thomas von Aquin (1225–1274) zählt ebenso dazu wie eine ganze Reihe prominenter evangelischer Denker im und nach dem Reformationsjahrhundert. Aber auch danach und nach dem schneidenden Einspruch der Aufklärungsepoche (dazu mehr gleich und in Kap. 4) wurde und wird das Programm einer philosophischen Theorie des höchsten Wesens vertreten. Der allerwichtigste Name aus jüngerer Zeit ist Georg W.F. Hegel, es gibt die Programmatik aber nahezu gleichwertig bei denen, die sich auf ihn beziehen wie bei seinen geschworenen Gegnern. Bei denkbar größten Unterschieden in Programmatik und Durchführung eint diese Gruppe von Denkern die Überzeugung: Es ist möglich und geraten, mit den Mitteln der Philosophie das höchste, umfassende und unanschauliche Wesen zu beschreiben oder sich ihm – seiner Unfassbarkeit eingedenk – doch mindestens begrifflich oder metaphorisch zu nähern. Dafür hat sich der Name der rationalen Theologie eingebürgert. Religionsphilosophien mit Nähe zum Christentum verwenden sie in aller Regel, um die Sache