Religionsphilosophie. Martin Hailer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Hailer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846341834
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als wahr gelten kann, wenn sie zu anderen, bereits als wahr erkannten Behauptungen passt und also das Netz der wahren Aussagen entweder vergrößert oder aber verdichtet. – Auf eine vollständige Nennung oder gar Beschreibung der Wahrheitstheorien – in sich ein weites und, je näher man hinsieht, sehr komplexes Feld – kommt es hier nicht an. (Skirbekk, Puntel) Vielmehr sollte gezeigt werden: Das vorgeblich Selbstverständliche, man solle wahr, wirklich und sinnvoll reden, zeigt, wenn man nur etwas genauer hinsieht, wie wenig selbstverständlich es ist. Durch eine kleine Überlegung findet man sich unversehens im Getümmel der Wahrheitstheorien. Ein solcher Effekt ist für den Charakter philosophischer Probleme typisch. Es war wiederum Aristoteles, der gesagt hat, dass der Anfang der Philosophie im sich-Verwundern bestehe. (Metaphysik 1, 13)

      Bislang sollte klar sein, dass philosophisches Denken sich strenge Allgemeinheitskriterien vorschreibt. Gedanken, die auf anderen Wegen entstehen, müssen deswegen nicht falsch sein, sind aber diesen Prüfkriterien zu unterwerfen. Auf besondere Weise ›typisch philosophisch‹ ist, dass der Blick auf die Prüfkriterien selber Klärungsbedarf hervorbringt. Es ist eben nicht einfachhin klar, was ›wahr‹ heißt. Nicht anders steht es mit ›wirklich‹ und ›sinnvoll‹. Die Diskussionsfelder, die sich bei Analyse dieser Prüfkriterien auftun, sind eher noch weiter und unübersichtlicher. – Freilich sind mit diesen ersten Überlegungen vor allem formale Gedanken geäußert worden: Wie man es eben anstellt, philosophisch zu denken. Höchstens implizit ging es bislang um die Frage, was man denn in den Blick nimmt, wenn man philosophisch denkt.

      Philosophie hat es mit Gegenständen zu tun, die von Fachwissenschaften nicht in den Blick genommen werden können, die für die Fachwissenschaften und für Menschen überhaupt aber wichtig sind Um diese – absichtlich vorsichtige – Bestimmung des Inhalts philosophischer Gedanken plausibel zu machen, soll ein Blick auf die Philosophiegeschichte geworfen werden. Rückblicke dieser Art sind weithin üblich, aber man sollte immer dazu sagen, zu welchem gegenwärtigen Zweck sie geschehen, denn Gedanken sollen in ihrer Jetztgestalt den Zeitgenossen einleuchten und sich nicht hinter einem Panzer ideengeschichtlicher Informationen verbergen. Hier bietet sich der Rückgang an, der noch einmal zu Aristoteles führt. Denn der Blick auf sein riesenhaftes Werk fördert Titel zu Tage, die ›typisch philosophisch‹ klingen, so gibt es etwa zwei Werke zur Ethik und – sein wohl bekanntestes – die 14 Bücher der Metaphysik. Andere hingegen klingen für heutige Ohren nicht eben philosophisch, die umfangreiche ›Physik‹ etwa oder ›Die Teile der Tiere‹, eine Art systematischer Biologie, ferner die ›Dichtkunst‹, die unter anderem eine Theorie des Dramas enthält. Für diese drei gibt es seit langem etablierte Einzelwissenschaften und man trifft heute keinen Philosophen mehr, der die Arbeit der systematischen Biologie besser machen will als ein Biologe. Man kann noch eine dritte Gruppe ausmachen, die vielleicht eine Zwischenstellung zwischen den ersten beiden ausmachen, so etwa die ›Politik‹ oder ›Über die Seele‹. An dieser dritten Gruppe lässt sich in erster Näherung zeigen, was ein philosophisches Problem inhaltlich ausmacht.

      Wir kennen die wissenschaftlichen Disziplinen der Politikwissenschaft und der Psychologie. Aber nicht wenige Menschen, die sich mit der einen oder anderen befassen, stellen sich die Frage, ob die jeweilige Wissenschaft denn alles sagen kann, was für den Themenbereich nötig ist. So ist es in der Politikwissenschaft etwa üblich, die Geschichte und die Veränderung der Parteienlandschaft zu beobachten, verschiedene parlamentarische Systeme zu vergleichen, Wahlprozesse zu beobachten oder den Einfluss zivilgesellschaftlicher Gruppen auf politisches Entscheidungsverhalten zu analysieren. In diesen und anderen Themenbereichen der Politikwissenschaft muss sich auskennen, wer politisch mitreden will, schlicht, weil er sonst ein Dilettant ist. Aber von einem verantwortlichen Politiker und/oder politischen Analysten erwartet man mit gutem Grund mehr: So muss er etwa benennen können, was er für gerecht hält, wenn es um die Verteilung von Einkommen oder von Steuerlasten geht. Er muss eine Vorstellung davon haben, was Mündigkeit ist, wenn es ans Wahlrecht geht und zum Beispiel das Wahlalter der Bürger/innen thematisiert wird. Er muss sogar zu besonders kniffligen Fragen Stellung nehmen können, wann menschliches Leben eigentlich beginnt und endet, wenn es um die gesetzliche Regelung der medizinischen Forschung geht. ›Was ist gerecht?‹, ›was ist mündig?‹, ›wann beginnt das menschliche Leben?‹ – das sind Fragen, die mit den historischen und empirischen Methoden der Politikwissenschaft nicht beantwortet werden können und die doch für verantwortliche Politik ganz unumgänglich sind. Und hier zeigt sich, gleichsam an den Rändern einer etablierten universitären Wissenschaft, der Bedarf an Aufklärung zu Themen, mit denen sie zu tun hat, die sie mit ihren eigenen Mitteln aber nicht bearbeiten kann. Bei den hier rasch angetippten Beispielen geht es um Fragen, die in der philosophischen Ethik und der philosophischen Anthropologie verhandelt werden. Sie kommen mitten aus dem politischen Geschäft und führen doch vor das, was kein Geringerer als Immanuel Kant (1724–1804) als zwei der vier philosophischen Grundfragen benannte: Wie soll ich handeln?, und: Was ist der Mensch? Die beiden anderen heißen nach Kant: Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? (Kant 448) – Man braucht nicht viel Phantasie, um im politischen Handeln auch den Bedarf an Aufklärung in Betreff dieser Fragen zu entdecken.

      Aus dem Alltagsgeschäft einer etablierten universitären Disziplin ragt also der Bedarf an philosophischer Aufklärung gleichsam heraus. Das lässt sich für andere universitäre Disziplinen ebenso zeigen. Die bereits angesprochene Psychologie etwa hat unsere Kenntnisse über menschliches Verhalten und Reagieren enorm erweitert. Das aber tat sie um den Preis, von der ›Seele‹ eben nicht mehr zu reden. Es ist für wissenschaftliche Psychologie sinnvoll, ja unabdingbar, an diesem Punkt sparsam zu sein, weil sie sonst ihre empirischen Befunde gar nicht erheben kann. Aber die auf den Gedanken der Seele bezogene Frage ›was ist der Mensch?‹ muss sie dafür unbeantwortet sein lassen. Diese Frage freilich verstummt dadurch nicht.

      So zeigt der Blick auf die verschiedenen Werkgruppen des Aristoteles: Er interessierte sich teils für Bereiche, für die sich mit guten Gründen wissenschaftliche Einzeldisziplinen entwickelten. Bei anderen, wie den hier angesprochenen Politik und Psychologie war das nur teilweise der Fall: Gerade weil die heutigen Wissenschaften auf ihren Gebieten einen so enormen Wissenszuwachs erzeugten, setzen sie den Bedarf an Fragen aus sich heraus, die sie nicht selbst beantworten können. Bei der zuerst genannten Werkgruppe des Aristoteles stehen diese Fragen gleichsam besonders rein vor uns: Die Frage nach dem rechten Handeln etwa – Gegenstand der Ethik – ist für viele andere Disziplinen und Lebensbereiche relevant, als sie selbst aber ist sie eine philosophische Frage.

      In den Grenzlagen der etablierten Disziplinen und über sie hinaus also zeigen sich die philosophischen Probleme. Es ist eine weiterführende Frage, ob man eine Sammlung aller philosophischen Probleme in ihrer Zuordnung versuchen kann. Zu manchen Zeiten herrschte diesbezüglich ziemlicher Optimismus, so etwa in den dominierenden Debatten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Die entsprechende Form einer solchen Darstellung aller philosophischen Probleme galt der Zuordnungsleistung und Vollständigkeit wegen als System der Philosophie. Denker sehr verschiedener Richtung legten Werke dieser Art vor, so etwa Georg W.F. Hegel (1770–1831) die ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ und Karl Jaspers (1883–1969) seine ›Philosophie‹, jeweils in drei Bänden. Heute überwiegt weithin die Skepsis, ob Vollständigkeit an Themen und an innerer Systematisierung überhaupt möglich ist. Weil philosophische Themen als Grenzlagen des Denkens auftauchen, ist es wahrscheinlicher, dass sie nicht in ein vollständiges System gefasst werden können. Sie haben vielmehr etwas Anarchisches und Störendes, das etablierte Diskurse unterbricht.

      b) Religionsphilosophisch denken

      Der Ort der Religionsphilosophie auf der Grenze

      Nach diesen vorläufigen Bestimmungen zum Frageinstrument Philosophie muss es jetzt darum gehen, was eigentlich in der Religionsphilosophie thematisiert wird. Dass es sich um Themen handeln sollte, die im Rahmen anderer Disziplinen auftauchen, von ihnen aber nicht adäquat bearbeitet werden können, sollte so weit klar sein. Welche genau es aber sein könnten, ist nicht leicht auszumachen. Man kann dem näher kommen indem man zunächst eine Abgrenzung vornimmt: Religionsphilosophie behandelt Themen, die auch von anderen Disziplinen behandelt werden, aber sie tut dies auf spezifisch philosophische Weise, die im letzten Abschnitt umrissen wurde. Diese anderen Disziplinen sind:

      Religionssoziologie: Hier geht es um Religion als gesellschaftliches