Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Tractatus an Themen der Religion keinerlei Interesse haben dürfte. Denn in ihm wird die Anschauung des logischen Atomismus vermittelt: Die Welt ist ein großes gegliedertes Ganzes. Die einzelnen Teile der Welt kann man Dinge oder Gegenstände nennen. Sie treten in sehr vielen verschiedenen Gruppierungen auf, die Wittgenstein Sachverhalte nennt. Die Gesamtheit aller Sachverhalte macht die Welt aus. Einzelne Sachverhalte sind voneinander unabhängig und man kann nicht von einem Sachverhalt auf den nächsten schließen. (2.061 und 2.062) – Das ist bereits die Grundintuition des logischen Atomismus, nach dem wir uns die Welt als Ensemble relativ unverbundener Dinge und Zustände denke sollen, eben als riesiges Aggregat von selbständigen Atomen.
Dieser Welt korrespondiert die menschliche Fähigkeit zur Erkenntnis. Freilich kann als Erkenntnis nur das gelten, was die Struktur der Gegenstände, Dinge und Sachverhalte abbildet. Wahre Sätze sind also Abbilder der Wirklichkeit. Die einfachsten dieser Sätze werden – im Tractatus nicht dem Begriff, aber der Sache nach – oft als Protokollsätze bezeichnet, weil es ihre Aufgabe ist, ein kleines Stück Wirklichkeit getreu abzubilden. (2.18) Neben diesen Protokollsätzen sind nur noch solche Sätze wahrheitsfähig, die als logische strenge Ableitungen aus ihnen hervorgehen. Das damit verbundene Ziel ist: Eine Sprache, die mit Protokollsätzen beginnt und nur logische Ableitungen aus ihnen zulässt, ist wahres Reden über den Zustand und Inhalt der Welt. Alles andere Sprechen – das es ja in größter Zahl und Variationsbreite gibt – ist demgegenüber pure Phantasie und nicht wirklichkeitshaltig.
Diese philosophische Stoßrichtung war vor allem gegen die spekulativen und metaphysischen Richtungen der europäischen Philosophie gerichtet, die Ideen für das eigentlich Wirkliche hielten und den Kontakt zur empirisch fassbaren Wirklichkeit entsprechend gering schätzten. Ihnen sollte gezeigt werden, dass es sich um nicht mehr als Phantasie und Geisterseherei handelte. Ein von der gesamten Richtung des logischen Atomismus durchaus gewünschter Nebeneffekt war, dass die Rede von Gott und Religion in der Philosophie keinerlei Rolle mehr spielen sollte, weil ihre Sätze ja evidenterweise nicht als Protokollsätze von einfachsten Dingen, Gegenständen und Sachverhalten beginnen und daraus logische Ableitungen vornehmen. Es gehört – auch und zumal für die ersten Rezipienten des Tractatus in den 1920er Jahren – zum Überraschenden des Werks, dass in ihm sehr wohl von Ethik, Gott, Religion und sogar von Mystik die Rede ist.
Möglich oder sogar zwingend wird das für Wittgenstein, weil es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Sinnvollerweise sagen kann man nur Sätze, die die Wirklichkeit protokollieren, sowie Ableitungen von diesen Sätzen. Es gibt aber noch mehr in der Welt, was Menschen durchaus brauchen und worauf sie rekurrieren. So muss zum Beispiel, wer Protokollsätze anfertigt, davon ausgehen, dass die Form seiner Sätze und die Form derjenigen Wirklichkeit, die von ihnen abgebildet wird, identisch sind. Dass das so ist, darüber kann kein sinnvoller Protokollsatz gebildet werden, es muss sich vielmehr zeigen. So ist bereits die Formulierung eines Protokollsatzes darauf angewiesen, dass es die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gibt. Die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ist aber noch für ganz andere Bereiche wichtig, so zum Beispiel für die Ethik: Dass es Ethik gibt, ist irgendwie klar, denn Menschen müssen sich verhalten und sie müssen sich dabei – nicht immer, aber oft genug – entscheiden. In den logisch bildbaren Sätzen kann die Ethik aber nicht enthalten sein, weil diese ein Abbild der Gegenstände der Welt darstellen und weiter nichts. Folgerung: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.« (6.42) Ich kann in sinnvollen Sätzen nicht über Ethik sprechen. Gibt es sie also nicht? Im nächsten erläuternden Satz sagt Wittgenstein: »Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt.« (6.421) Die Schlussfolgerung heißt also: Nur weil sich etwas nicht sagen lässt, heißt es noch lange nicht, dass dies ›etwas‹ nicht existiert. Es gehört allerdings dem Bereich des Zeigbaren, nicht dem des Sagbaren an.
Diese Bestimmung wendet Wittgenstein auch auf den Bereich dessen an, was er im Tractatus Mystik nennt und was mit Religion in etwa deckungsgleich ist. Mystik bzw. das Mystische ist geradezu das Paradebeispiel für die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen: »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« (6.522)
Und was ist dann das Mystische? Wittgensteins erste Antwort ist knapp und vielleicht enttäuschend: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.« (6.5) Das ist, hält man sich die Satztheorie des Tractatus vor Augen, konsequent. Freilich geht Wittgenstein in einigen Andeutungen doch weiter. Wie kann sich etwas zeigen, das außerhalb der sinnvollerweise bildbaren Sätze liegt? Es kann sich nicht auf Teilbereiche der Welt beziehen, weil diese ja in Protokollsätzen beschreibbar wären. Also muss es mit dem Ganzen der Welt zu tun haben. Wittgenstein rekurriert auf die Erfahrung, dass zwei Menschen genau dasselbe sehen und dabei doch ganz andere Empfindungen haben können: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen.« (6.43) Es geht also um eine Einstellung zur Welt überhaupt. Sie kann sich, so viel sollte klar sein, nur zeigen. In logisch sinnvollen Sätzen kann sie nicht debattiert werden. Und doch ist unabweisbar, dass es solche Einstellungen gibt und dass jeder Mensch so oder so dem Ganzen der Welt gegenüber eingestellt ist. Wer sich in einer Einstellung vorfindet, die das Ganze der Welt dankbar und staunend hinnehmen kann, dürfte den Satz mitsprechen können: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« (6.44) Und was, so suggeriert er damit, wäre wichtiger als dies?
Mehr inhaltliche Auskunft gibt der Tractatus zum Mystischen kaum. Wittgenstein deutet noch an, dass sein Mystikverständnis etwas mit Gott zu tun hat, (6.432) und er beendet sein Buch mit dem Hinweis, dass er, um sinnvolle Sätze möglich zu machen, lauter sinnlose sagen musste. (6.54)
Der Beitrag des frühen Ludwig Wittgenstein zum in diesem Kapitel verhandelten Grundproblem lässt sich anhand von zwei Beobachtungen einordnen: (1) Wittgenstein verschärft den bei Immanuel Kant anzutreffenden Zug noch einmal: Eine Lehre über Gott kann es wirklich nicht geben. Das geht für ihn sogar so weit, dass auch eine regulative Idee namens ›Gott‹, die es bei Kant ja gibt, sinnlos ist. Die erkenntnistheoretischen Annahmen – also die Frage, wie und worüber sinnvolle Sätze gebildet werden können – sind bei Kant und Wittgenstein unterschiedlich, die Grundtendenz in Sachen Unaussagbarkeit Gottes aber ähnlich und bei Wittgenstein noch weiter getrieben. (2) Wittgenstein identifiziert, wie eben gesehen, ›das Mystische‹ und die grundlegende Haltung zur Welt: Bei identischem Inhalt der Welt ist die Welt des Glücklichen eine andere als die des Unglücklichen. Gott/Mystik und die Haltung zur Welt sind also eng miteinander verbunden. Dieses Motiv gibt es bei Kant nur recht indirekt: Für ihn ist die Annahme, Gott existiere, eine notwendige Implikation der Ethik. Man soll aber nicht auf Gott schauen und sich Belohnungen erhoffen, sondern nur und ausschließlich pflichtgemäß handeln. Wittgenstein bringt also den Bezug auf Gott/Mystik und das, was man mit einem ungeschickten Wort das Lebensgefühl nennen könnte, näher zusammen als Kant. Damit erreicht er eine Wiederannäherung an die Konstellation, mit der dies Kapitel begann: Für Platon ist der Bezug zum Höchsten ja nur aussagbar, indem der Lebensweg und damit auch die vielfältigen Erfahrungen des Philosophen in den Blick genommen werden.
Irgendwie, so scheint es, gehören beide zusammen: Die Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und der Umstand, dass genau damit Erfahrungen verbunden sind, die etwas mit Orientierung, Ausrichtung des Lebens und mit der Wirklichkeit als ganzer zu tun haben. Dieser Konnex – Unnennbarkeit Gottes auf der einen Seite und damit verbundene Orientierung auf der anderen – ist damit erst anfänglich benannt und absichtlich vage umschrieben. Er wird sich für den religionsphilosophischen Gedanken als zentral erweisen, der im nächsten Kapitel vorgestellt wird.