Rationale Theologie kann auf eine überaus beeindruckende Geschichte verweisen, sie hat gegenwärtig jedoch eine namhafte Gegenposition. Theoretiker/innen, die rationale Theologie vertreten, beginnen ihre Ausführungen auch sehr häufig mit einer Rechtfertigung, warum etwas dieser Art überhaupt möglich sein soll. Das ist ein recht deutlicher Hinweis auf das konkurrierende Gegenkonzept und darauf, dass dieses offenbar gute Gründe für sich zu haben scheint. Dies Gegenkonzept behauptet: Es ist aus prinzipiellen Gründen unmöglich, eine Theorie über Gott aufzustellen oder eine, die sich Gott – wie vorsichtig auch immer – nähert. Das liegt maßgeblich daran, dass Gott, wenn er denn Gott ist, dem menschlichen Begreifen entzogen sein muss. Eine Theorie über etwas, was man nicht begreifen kann, ist aber ein aussichtsloses, oder schärfer noch: ein sinnloses Unterfangen. So hat, aufs Allerkürzeste gesagt, Immanuel Kant der bis dahin gängigen rationalen Theologie das Lebenslicht ausgeblasen. Das Resultat war jedoch nicht Schweigen oder das Ende der Religionsphilosophie als Disziplin. In einer Wendung, die man durchaus als epochal bezeichnen kann, kam die Alternative zum Zuge, die seither und wohl auch in der Gegenwart das dominantere Muster darstellt: Gegenstand der Religionsphilosophie ist nicht Gott, sondern vielmehr der Mensch, weil und sofern er religiös ist. Religion, Religionen, Religiosität, religiöse Erfahrungen und Gefühle – all das lässt sich durchaus beschreiben. Das ist der erste und bahnbrechende Vorteil einer Philosophie der Religion gegenüber einer rationalen Theologie. Dazu kommt, dass Religion/Religiosität (usw.) ein über sich hinaus weisendes Moment hat: Ein Mensch jüdischen Glaubens etwa unterstellt, wenn er betet, dass es Gott gibt. Genauso behauptet jemand, der sich in mystischer Versenkung übt, dass es das ›etwas‹, worin er sich versenkt, tatsächlich gibt, obwohl es begrifflich nicht zugänglich ist. Die Reihe der Beispiele lässt sich leicht vermehren. Sie zeigt: Eine Philosophie der Religion hat die Chance, die indirekte Mitteilung, über das, was direkt nicht zugänglich ist, einzuüben. Nicht nur, aber vor allem aus diesem Grund, sind Religionsphilosophien der Gegenwart in ihrer überwiegenden Zahl als Philosophien der Religion konzipiert.
Der Gründervater dieses Typs der Religionsphilosophie ist Friedrich D.E. Schleiermacher (1768–1834). In seinen epochalen ›Reden über die Religion‹ (1799) entwarf er eine Theorie der religiösen Erfahrung und provozierte das theologische Establishment mit dem Satz: »Gott ist nicht alles in der Religion.« (Schleiermacher 2002, 99) In seinem reifen Werk ist das Verhältnis von Religiosität und Gotteskonzept ausbalancierter als in den ›Reden‹, was vor allem an Schleiermachers systematischer Philosophie, der ›Dialektik‹ zu studieren ist. (Schleiermacher 1976, 297–314) Von bis heute enormer Wirksamkeit ist ein Buch, das sich teilweise auf Schleiermacher bezieht, Rudolf Ottos ›Das Heilige‹ von 1917. Otto entwirft eine Idee der religiösen Erfahrung und rekurriert dafür auf den Begriff des Numinosen. Sein Buch ist das wahrscheinlich meistgelesene Werk aus Theologie und Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ernst Feil legte umfangreiche Studien zur Begriffsgeschichte von ›Religion‹ vor, in der er die zum Teil dramatischen Bedeutungswandel des Begriffs nachzeichnet. (Feil Bd. 1–4)
Beide Typen von Religionsphilosophie partizipieren auf je ihre Weise an demselben Grundproblem: Gibt es eine Instanz über die Welt hinaus – die im jüdisch, christlich und muslimisch inspirierten Denken gewöhnlich ›Gott‹ genannt wird –, so muss sie eben auch über unser Begreifenkönnen hinaus sein. Eine Philosophie der Religion, die sich der Technik der indirekten Mitteilung bedienen kann, scheint hier gegenüber einer rationalen Theologie im Vorteil zu sein. Im Fortgang der Argumentation möchte ich zeigen, dass es gleichwohl falsch wäre, allein den Weg einer Philosophie der Religion zu gehen. Das Motiv der rationalen Theologie ist für eine im jüdisch-christlichen (und recht vermutlich auch im muslimischen) Kulturkreis angesiedelte Religionsphilosophie zu achten, auch wenn man sich genau Rechenschaft ablegen muss, wie mit der genannten Grundschwierigkeit umzugehen ist. Eine Philosophie der Religion allein steht demgegenüber in der Gefahr des Anthropozentrismus und der inhaltlichen Verengung, also der Konzentration auf Möglichkeiten menschlicher Erfahrung allein, die den Zielpunkt der indirekten Mitteilung aus dem Blick verlieren.
2. Den entzogenen Grund denken
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke Bd. IV, Darmstadt 1983, 103–302; ders. Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. II, Darmstadt 1985; Platon, Phaidros, in: Werke Bd. 5, bearb. von D. Kurz, Darmstadt Neudruck 2001, 1–193; ders., Politeia (Der Staat), Werke Bd. 4, bearb. von D. Kurz, Darmstadt Neudruck 2001; J. Rawls, Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, Frankfurt/M. 2002. L. Wittgenstein, Tractatus, Logico-Philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 51989, 7–85; ders., Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Frankfurt/M. 22001.
In diesem Kapitel kommen große Vertreter der rationalen Theologie zu Wort. Sie werden daraufhin befragt, wie sie mit der Grundschwierigkeit umgehen, einen ›Gegenstand‹ denken zu wollen, der ein Gegenstand doch nicht sein kann. Es gehört zu den hermeneutischen Selbstverständlichkeiten, anzunehmen, dass ein Autor von Rang etwas, was man als Problem empfindet, selbst eher und deutlicher sah. Der amerikanische Ethiker John Rawls nannte das den Grundsatz, »daß die Autoren, die wir studierten, viel gescheiter gewesen waren als ich selbst. Wären sie es nicht gewesen, warum hätte ich dann meine eigene Zeit (…) mit ihrer Lektüre vergeuden sollen?« (Rawls 17f) Wissend, dass die Lektüre dieser Originale gewiss keinerlei Zeitvergeudung ist, folgt hier der Blick auf drei charakteristisch unterschiedliche Weisen, mit der Grundschwierigkeit der rationalen Theologie umzugehen.
a) Platon: Das blendende Licht und die Macht der Bilder
Eines der bekanntesten Stücke aus dem Werk Platons (428–348 v.Chr.) ist das sogenannte Höhlengleichnis. Es ist neben dem Seelenmythos (Phaidros 246a–247e) der Textausschnitt aus Platons Werk, in dem die Grundschwierigkeit der rationalen Theologie in besonders dichter und für ihn besonders typischer Weise behandelt wird. Der Kontext der Argumentation ist in etwa folgender: Sokrates und seine Gesprächspartner beraten in umfangreichen Erörterungen, wie ein ideales Gemeinwesen aussehen könnte. Eine Kernfrage dabei ist, ob der ideale Staat eine Verpflichtung zur Wahrheit hat. Staaten, so könnte man ja durchaus meinen, haben dies nicht: In ihnen gilt das, was das Gemeinwesen leidlich funktionieren lässt und worauf die Bürgerinnen und Bürger sich einigen. In Demokratien etwa geht es nicht um ›Wahrheit‹, sondern um politisches Funktionieren und den guten Kompromiss innerhalb bestimmter grundrechtlicher Grenzen. Das freilich, so Sokrates und seine Freunde, soll im idealen Staat nicht so sein (entsprechend kritisch sieht er die Demokratie: Politeia 555b–562a). Die Gesetze und Ideale sollen vielmehr von denjenigen Menschen festgelegt werden, die sich nicht nach der jeweiligen kurzlebigen Mode mal so und mal so verhalten, sondern die »das, was immer/ewig sich gleich bleibt, erfassen können«. (Pol 484b) Diese Menschengruppe aber sind die Philosophen. Das muss gegen einen gewissen modephilosophischen Trend derjenigen gesagt werden, die Philosophie mit gut ankommender Rhetorik verwechseln (nichts übrigens, was es nur zur Zeit Platons gegeben hätte!), auch ist das Erkenntnisstreben eines Philosophen durchaus gefährdet. (Pol 490d–495b) Ist das aber geklärt, so kann man sagen: Ein von Philosophen eingerichteter Staat wird nicht nach bloßer Tradition oder nach gerade vorhandenen Machtkonstellationen leben. Die Philosophen werden vielmehr daran gehen, ihn nach Maßgabe des »natürlicherweise Gerechten, Guten und Besonnenen« einzurichten. (Pol 501b) Wer einen philosophisch geführten Staat möchte, muss also akzeptieren, dass er nur von denen geleitet wird, die in besonderer Weise befähigt sind. Er/sie bekommt dafür aber die Garantie, dass dieser Staat auf den Wahrheiten der Gerechtigkeit, des Guten und der klugen Abwägung aufruht.
Der nächste große Gedankenschritt fragt, worin diese Wahrheiten denn nun bestünden. Eine verzweigte und auch auf andere Dialoge Platons ausgedehnte Argumentation bringt an den Tag, dass das Konzept des ›Guten‹ der wichtigste Wahrheitsbesitz ist, den jemand haben kann. Die einfachste Begründung dafür geht so: Man muss sich nur vorstellen, von einem Gegenstand alle Exemplare zu besitzen, die es überhaupt gibt, gleich ob es sich um eine Süßigkeit handelt, eine CD oder einen Tisch. Wüsste der Besitzer all dieser Dinge nicht, welches oder welche davon