Religionsphilosophie. Martin Hailer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Hailer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846341834
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Heer von Gütern diejenigen herausfinden zu können, die ›gut‹ genannt zu werden verdienen, die herausragendste aller Eigenschaften. (Pol 505a–b)

      Was das Gute nun näherhin ist und wie man zu ihm gelangt, muss offenbar der Kern der Erörterung sein. Hier nimmt das in der Politeia berichtete Gespräch eine eigentümliche Wendung. Die diskursive und traditionskritische Erörterung der langen Abschnitte zuvor wandelt sich zu einer Reihe von drei Gleichnissen, dem Sonnengleichnis, dem Liniengleichnis und eben dem wohlbekannten Höhlengleichnis. Die ersten beiden (Pol 506b–511e) gehören in die Erörterung dessen, was das Gute an sich ausmacht, das Höhlengleichnis baut hierauf auf, fokussiert aber auf diejenigen, die sich die Erkenntnis des Guten zur Lebensaufgabe machen, also auf die Philosophen. Es erzählt folgendes:

      Ganz normale Menschen meinen, dass sie es in ihrem ganz normalen Leben mit realen Dingen und Weltzuständen zu tun haben. Das ist jedoch ein Irrtum, denn sie sehen nur flüchtige Schatten. Die Menschen sind, entgegen ihrer Annahme, nämlich wie gefesselte Gefangene in einer Höhle. Was sie für die realen Gegenstände halten, sind Schatten, die an eine Wand in der Höhle projiziert werden, indem jemand außerhalb der Höhle Gegenstände vorbeiträgt und ein ebenfalls außerhalb brennendes Feuer jene Schatten erzeugt. Da niemand diese Höhle verlässt, ist die Einigkeit über die Realität dessen, was doch nur Schatten sind, komplett. Nun könnte es aber sein, dass jemandem die Fesseln abgenommen würden und er gezwungen würde, sich der Lichtquelle zuzuwenden. Das ist für diesen Menschen freilich keine Erleichterung oder Befreiung, sondern zunächst eine große Irritation, weil die Selbstverständlichkeit dessen, was für real gehalten werden darf, damit durchbrochen wird. Dieser Einzelne wird nun mit Gewalt aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und aus der Höhle geführt. Er muss einen unwegsamen und steilen Aufgang nehmen, bis er ganz ans Licht der Sonne kommt. Erst allmählich gewöhnen sich seine Augen an dieses Licht. Er sieht die Schatten, die die anderen Menschen für Realität halten, die anderen Dinge, schließlich sogar das, was am Himmel ist und den Himmel selbst. Es ist ihm sogar vergönnt, die Sonne zu sehen und »er wird es schon schaffen, herauszufinden dass sie Zeiten und Jahre hervorbringt und allem im sichtbaren Raum die Ordnung gibt und auch von dem, was dort sichtbar ist, die Ursache ist.« (Pol 516b–c) Da er dies erkannt hat, bemerkt er, wie vollständig die anderen Menschen irren, die darum wetteifern, das am besten zu erkennen und für real zu halten, was doch nur Schatten sind. Kehrt derjenige, dem es vergönnt war, die Sonne zu sehen, wieder in die Höhle zurück, so wird ihm dort vorgehalten werden, dass er sich die Augen verdorben habe und dass es nicht lohnt, diesen beschwerlichen und irritierenden Aufstieg zu unternehmen. Mehr noch: Jeden, der einem diese irritierenden Erkenntnisse antun will, muss man fangen und umbringen. (Pol 514a–517a)

      Dieses Gleichnis gibt vielfach Auskunft, selbst dann, wenn wir uns nur auf die Aspekte konzentrieren, die es zur Grundschwierigkeit der rationalen Theologie beisteuert, das Undenkbare denken zu wollen. Folgendes ist hier mindestens zu nennen: (1) Es ist radikal unwahrscheinlich, den höchsten aller Gegenstände überhaupt zu Gesicht zu bekommen, weil man sich dafür von tief eingewurzelten Vorstellungen über das, was wirklich ist, befreien muss. Genauer: Man muss davon befreit werden – das Gleichnis spricht ausdrücklich davon, dass der Einzelne, der die Höhle verlässt, dies nicht aus eigenem Antrieb, sondern gezwungenermaßen tut. Auch wird er bei Rückkehr auf die geballte Feindschaft seiner Mitmenschen treffen. (2) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit ist mühsam, schmerzhaft und ein langer Prozess, der wortwörtlich als ein zurückzulegender Weg beschrieben wird. (3) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit geschieht nicht isoliert, sondern ist eingebettet in die Schau der Weltgegenstände und des Himmels. Sie ist also der Abschlusspunkt einer Gesamtorientierung, welche die Täuschungen des ganz normalen Lebens hinter sich lässt. (4) Die Erkenntnis der höchsten Wahrheit selbst ist keine Erkenntnis im begrifflichen Sinn: Der Philosoph sieht für einen Augenblick in die Sonne. Er hat also einen kurzzeitigen optischen Eindruck, eine Vision. Dass sie es ist, die alles ordnet und allem seinen Platz gibt, wird im zitierten Satz aus dem Höhlengleichnis ausdrücklich als ein nachgelagerter Schluss bezeichnet, und überdies als einer, der keine notwendige Folge anzeigt, sondern von dem man annehmen muss, dass es klappen wird. Eine Vision und eine gar nicht sicher stattfindende, nachgelagerte Schlussfolgerung machen also den Kern der Sache aus. (5) Die Erkenntnis des Philosophen macht einsam: Die Erkenntniswettbewerbe seiner Mitmenschen findet der Philosoph ab jetzt albern, auch wird er seiner Aussagen wegen von ihnen für verrückt erklärt und mit dem Tode bedroht. (6) Über den höchsten aller Gegenstände selbst wird nur gesagt, dass er die Sonne ist; eine Theorie seiner Eigenart liegt nicht vor, wohl aber Schlussfolgerungen, die seine Tätigkeiten und Effekte betreffen. Das wird (7) noch dadurch unterstrichen, dass das Höhlengleichnis insgesamt den Werdegang des Philosophen beschreibt. Es ist also mindestens eine Mischform aus rationaler Theologie und Philosophie der Religion, weil es deutlich macht, dass die rationale Theologie nur über den Weg der Religion des Philosophen erschwinglich ist.

      Diese Elemente können durchweg als Ausdruck dessen gelesen werden, wie radikal unwahrscheinlich, schwierig und letztlich gar nicht begrifflich die ›Erkenntnis‹ der letzten und höchsten Wahrheit ist. Dazu kommt noch (8) die Beobachtung zur Darstellungsweise: Der platonische Sokrates entwickelt nicht eine Theorie, sondern wechselt am Gipfelpunkt seiner Argumentation ins Medium der Erzählung und des Gleichnisses. Das geschieht an entscheidenden Argumentationsstellen im Werk Platons öfter und ist also kein Zufall. Vielmehr scheint hier zu gelten: Erkenntnisse höchster Rangordnung sind nicht begrifflicher Natur. Der Weg zu ihnen ist nur im Bild beschreibbar.

      b) Kant: Gott ist kein Gegenstand, aber denknotwendig

      In einem ganz anders gelagerten intellektuellen Klima bearbeitet Immanuel Kant (1724–1804) genau dasselbe Problem wie Platon, weshalb es reizvoll ist, die Position der beiden Denker unmittelbar nebeneinander zu stellen.

      Kant gilt gewöhnlich – gleich, ob das lobend oder kritisch gemeint ist – als der Philosoph der Aufklärung. Freilich ist er es in einem besonderen Sinn. Die große kritische Gedankenkraft, mit der die Aufklärung an Traditionen, Religion, Regierungsformen usw. herangegangen war, findet Kants Beifall. Er geht aber einen entscheidenden Schritt weiter: Diese Fähigkeit zum kritischen Denken darf sich nicht nur nach außen – eben an Tradition, Religion, Politik usw. – wenden, ihr erster Adressat ist der Denkende selbst. Erst als Selbstkritik ist Kritik wirklich in ihr Reifestadium gekommen. Damit traf Kant einen wunden Punkt der Aufklärungszeit. Es war unbestritten viel nützliche Kritikarbeit geleistet worden. Das Kritikinstrument dabei aber war so gut wie nicht selbst zum Gegenstand gemacht worden. Genau das ist das Programm, das Kant sich für seine kritische Philosophie gibt: Die Vernunft selbst muss analysiert werden, ihre spezifische Leistungsfähigkeit und damit aber auch die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit müssen analysiert werden. Diese Arbeitsaufgabe spiegelt sich im Titel der drei Bücher wieder, die für das Programm stehen: Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ (KrV) analysiert die reine = theoretische Vernunft, also das Vermögen zur Beobachtung und zum Ziehen von Schlüssen, die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ (KpV) fragt nach dem Praktischwerden der Vernunft, also nach moralischen Entscheidungen, die ›Kritik der Urteilskraft‹ (KU) analysiert Wert- und Geschmacksurteile. In Sachen Gottesbegriff fallen die wichtigsten Grundentscheidungen in der KrV und spielen dann zu einer Grundentscheidung der KpV hinüber.

      Die Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist eine separate Lektüre wert, weil sie in der relativen Kürze von 21 Seiten eine programmatische Kurzerklärung des kritischen Programms enthält. Mit Blick auf die ziemlich bewegte Aufnahme der 1. Auflage umreißt Kant hier die wesentlichen Elemente seines über siebenhundert Seiten langen Werks. In dieser Vorrede nun steht der oft zitierte Satz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. (KrV B XXX) Ein unerhörter Satz, der – wie zu sehen sein wird – bis heute Aufmerksamkeit erhält und nicht unwidersprochen bleibt. Für Kant steht er in folgendem Zusammenhang: Könnte ich von Gott etwas wissen, könnte ich Gottes Existenz belegen, könnte ich seine Eigenschaften beschreiben usw., dann könnte Gott nicht Gott sein. Warum? Menschliche Erkenntnis, so Kant, geht auf Gegenstände der Erfahrung und auf mögliche Gegenstände der Erfahrung. Sie bezieht sich also auf Dinge und Weltzustände, die man sehen, messen, wiegen oder sonstwie zur Erfahrung bringen kann oder von denen man doch mit guten Gründen vermuten darf, dass sie Gegenstand von Erfahrung werden könnten (so ist es z.B. wenn die theoretische Physik