(2.) Die Abarten der genannten Verfassungen sind nun aber: vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeía die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Monarchen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen frommt, sieht keine von ihnen.
Aristoteles: Politik III, 1278b6-1279b10. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. © Reinbek: Rowohlt 1994, S. 139-142
Interpretation
Im Unterschied zu Platon musste Aristoteles (384-322 v. Chr.) nicht ganz von vorne anfangen, er konnte an die Vorgaben seines Vorgängers und Lehrers anknüpfen und auf den von ihm gelegten Fundamenten aufbauen. Er musste sich nicht erst durch die Flut konkurrierender Meinungen durcharbeiten, sondern konnte die einzelnen Wissensgebiete durch kritische Analyse der platonischen Dialoge systematisieren. Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stageira, einer kleinen Polis auf der Chalkidike, geboren. Er war ca. 43 Jahre jünger als Platon, kam 367 v. Chr., als Siebzehnjähriger, nach Athen und trat in Platons Akademie ein, der er zwanzig Jahre lang als Lernender und Lehrender angehörte. Nach Platons Tod (347) verließ er Athen und zog auf die Insel Lesbos, wo die Zusammenarbeit mit Theophrast, seinem bedeutendsten Schüler, begann. Dieser gründete später den Peripatos, die aristotelische Schule in Athen. Aristoteles kehrte 335/34 nach Athen zurück und verließ es erst wieder 323/22, nach Alexanders des Großen und kurz vor seinem eigenen Tod (322). Zwar war der größte Teil seines Werkes – einschließlich der praktischen Philosophie – lange Zeit verschollen, doch wurde es im späten Mittelalter über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) erschlossen und in der Folge zur Basis des europäischen Politikdenkens, das sich mit seiner Hilfe aus den Fesseln des christlichen Glaubens emanzipierte. Vor allem die Ethik und die Politik erzielten eine gewaltige Wirkung, da sie dem menschlichen Leben eine neue Würde und den sozialen und politischen Institutionen – von der Familie über die Nachbarschaft und das Dorf bis hin zur Stadt und zum Reich – eine Eigenbedeutung und -berechtigung zuerkannten, die ihnen im Rahmen der christlichen Theologie bestritten worden war.
Die Politik des Aristoteles ist Teil der praktischen Philosophie und Fortsetzung der Ethik. Sie fragt nach den Bedingungen und Formen, Regeln und Normen des menschlichen Handelns, um herauszufinden, was für den Menschen das Gute ist (anthrópinon agathón). Gut für den Menschen ist ein glückliches Leben, weshalb sich die praktische Philosophie auf die Frage nach dem Weg zum Glück bzw. zur Glückseligkeit (eudaimonía) konzentriert. Im Unterschied zu Platon geht Aristoteles dabei nicht von der Idee des Guten aus, sondern von der empirischen Realität. Er will kein Ideal begründen, sondern untersuchen, welche Möglichkeiten sich unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen eröffnen. Zu diesem Zweck zerschlägt er den Begründungszusammenhang der Philosophie Platons und legt ihn in seine Einzelbestandteile auseinander, die er dann neu sortiert und komponiert. Während nach Platon allein den ewigen und unveränderlichen Ideen wahres Sein zukommt und die empirischen Erscheinungen als bloße – mehr oder weniger gelungene oder missratene – Abbilder derselben gelten, verwirft Aristoteles die Ideenlehre. Er ist zwar ebenfalls überzeugt davon, dass die Wissenschaft nicht bei der ungeordneten Vielfalt der einzelnen und unverbundenen Erfahrungstatsachen stehen bleiben kann, sondern das ihnen Gemeinsame und Allgemeine zu erkennen hat, doch sucht er dieses nicht hinter, sondern in den Einzeldingen. Er findet es in der ewigen „Form“, die als schaffendes Prinzip (Entelechie) den Primat über die Materie besitzt und ihr Gestalt, Bewegung und Veränderung vermittelt (vgl. Metaphysik I (A), 9; II (B), 3, 4; XIII (M), 4).
Hatte Platon in der Politeia eine auf philosophischer Einsicht basierte vollkommene Stadt konstruiert, die ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Interessen der Einzelnen die Idee des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit realisiert, so geht Aristoteles aus vom Streben der Menschen nach Glückseligkeit, das nicht einem Höheren untergeordnet, sondern selbst der höchste Lebenszweck ist. Die von den Ideen verbürgte Sicherheit ist entfallen, der Mensch wird nicht mehr von der vorgegebenen Gesamtordnung der Polis behütet, er hat sie in Kooperation mit seinen Mitbürgern selbst hervorzubringen. Demzufolge erhalten die ethischen und dianoetischen, das heißt verstandesmäßigen Tugenden wieder einen anderen, höheren Stellenwert. Sie sind keine Charaktereigenschaft irgendwelcher „Wächter“, sondern müssen von den Bürgern entwickelt werden und zeichnen verantwortlich für das Gelingen der politischen Selbstverwaltung. Während die verstandesmäßigen Tugenden (Wissenschaft, Technik, Einsicht, Klugheit, Vernunft, Weisheit) zum größten Teil durch Belehrung entstehen und wachsen, resultieren die ethischen aus Gewöhnung und Sozialisation (Nikomachische Ethik II.1. 1103a14 ff.). Aristoteles beschränkt sich bei ihrer Analyse nicht auf die vier von Platon erörterten Kardinaltugenden, sondern nimmt das Gesamtspektrum aller möglichen Charaktereigenschaften in den Blick. Er gelangt deshalb zu einer präziseren Beschreibung und bestimmt die erforderlichen Tugenden jeweils als Mittelmaß zwischen zwei Extremen (II, 1104a20 ff.; III, 1115a5 ff.; IV, 1119b21 ff.). Tapferkeit und Besonnenheit werden als rechte Mitte (mesótes) zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Zügellosigkeit und Stumpfheit bestimmt, die Freigebigkeit und der Stolz als Mitte zwischen Geiz und Verschwendung bzw. Eitelkeit und Kleinmut, die Sanftmut als „Mitte beim Zorn“ usw. Auch die Gerechtigkeit wird „mesotisiert“ und als Mitte zwischen Unrechttun und Unrechtleiden begriffen (V. 9. 1133b30 ff.). Da diese Bestimmung aber unzureichend bleibt, unternimmt Aristoteles eine gründliche und weit ausgreifende Analyse (V, 1129a3 ff.), die bis heute die ethischen Debatten und den Gerechtigkeitsdiskurs belebt.
Aristoteles begreift den Menschen als zôon lógon echón, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, sowie als zôon politikón, als ein politisches Lebewesen, das seinen Sinn und Zweck (télos) nicht in sich selbst, sondern nur in der Interaktion und Kooperation mit seinesgleichen finden kann (Politik I, 1253a2 f.; III, 1278b19 ff.). Ein sinnerfülltes Leben lässt sich demzufolge nicht durch Rückzug von den anderen führen, sondern nur im Zusammenwirken mit ihnen. Der freie Bürger soll seinen Lebenssinn nicht in der Arbeit (poíesis), der Herstellung von Gütern oder Werken, bzw. in der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz suchen und finden, sondern einerseits in der Kontemplation, der theoretischen Betrachtung der Welt, andererseits in der Praxis, im kollektiven Handeln, in der Gemeinschaft, der Kommunikation und Interaktion mit anderen, die sich – wie Aristoteles betont