Ciceros bleibende Leistung war, das römische Politikdenken auf neue, von den Griechen übernommene Grundlagen gestellt zu haben. Den Römern aber bleibt insgesamt das Verdienst, das Recht auf neue Art systematisiert und eine Ämterlaufbahn kreiert zu haben, die in der Nachwelt zahlreiche Bewunderer fand und in modifizierter Gestalt von den modernen Staaten übernommen wurde.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2038
Klaus Roth
Einleitung Mittelalter und Frühe Neuzeit
Das Politikdenken der Antike erfuhr einen entscheidenden Bruch mit der Entstehung der großen Reiche, die der griechischen Ausnahme im Kontext der antiken Despotien ein Ende setzten und die autarken Städte absorbierten (Alexanderreich, Diadochenreiche, Römisches Reich). Die Bürger fanden sich nunmehr als Glieder großflächiger Einheiten wieder, die sich durch Unterjochung der kleinen Einheiten konstituierten und institutionell konsolidierten. Die Bürgerschaft wurde anonymisiert, ihre Einheit war nur noch mystisch erfahrbar. Die Angehörigen dieser Riesenreiche kannten sich nicht mehr, waren als Gesamtheit weder durch verwandtschaftliche oder ethnische noch durch politische oder religiöskultische Beziehungen miteinander verbunden, sondern einer ihnen unsichtbaren Macht ausgeliefert, deren Gewalt sie im Akt der Eroberung zu spüren bekommen hatten.
Demokratie war in diesen Imperien undenkbar. Die Städte und Provinzen waren zu Befehlsempfängern der Könige und ihrer Satrapen geworden. Ihre Organisation und Verwaltung lag in den Händen der privilegierten Schichten. Für diejenigen, die keinen Zugang in die Reichsverwaltung oder in den Militärapparat fanden, blieb zunächst nur das eigene Haus, die Familie, die durch Arbeit zu ernähren war. Politik im Sinne der Bürgerbeteiligung an den Entscheidungen der Polis hatte aufgehört zu existieren.
Philosophisch reflektiert sich diese Lage in individualistischen Rückzugskonzeptionen (Hedonismus, Kynismus, Epikureismus, Stoizismus) und in der Wiederbelebung der altorientalischen Reichsidee, der zufolge es die Aufgabe des Königs ist, als unbeschränkter „Herrscher“ (Dominus) Gesetze zu erlassen und ihre Einhaltung zu garantieren und als „guter Hirte“ (Pastor) seine „Herde“ auf den richtigen Weg zu führen. Die entpolitisierte, aus der Reichsgestaltung und -verwaltung ausgeschlossene Bürgerschaft suchte sich aber zugleich neue Sphären der sozialen Interaktion, Räume der Gemeinschaftsbildung, der politischen Betätigung und Selbstverwirklichung. Sie intensivierte die alten und entwickelte neue Formen der Religion und schuf sich dadurch einen Ersatz für die verlorene oder verweigerte Politik.1 Die Reichsverdrossenheit wurde in neuen Kooperationen kompensiert. Unterhalb des politisch-administrativen Apparates wurden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, wurden neue Handlungsorientierungen gewonnen, wurde eine neue Sphäre kollektiver Rationalität geschaffen, die den eingetretenen Mangel an Erfahrungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgleichen und ihre Glieder über den erfahrenen Freiheits- und Sinnverlust hinwegtrösten konnte.
Den nötigen Raum boten im Römischen Reich insbesondere die urchristlichen Gemeinden, die sich durch die erfolgreiche Heidenmission des Apostels Paulus von Syrien über Kleinasien, Makedonien und schließlich das ganze Imperium Romanum bis nach Nordafrika ausbreiteten. In religionssoziologischer und religionspolitologischer Sicht erscheinen sie als Gegengründungen zum Imperium Romanum. In ihnen versammelten sich Menschen, die den sozialen und politischen Verhältnissen entfremdet waren, den wirtschaftlichen und rechtlichen, religiösen und kulturellen Ereignissen im Imperium distanziert gegenüberstanden und die politischen Geschehnisse ihrer Umgebung mit Argwohn betrachteten. Sie schlossen sich zu einer neuartigen Glaubensgemeinschaft zusammen und entwickelten darin neue Verhaltensorientierungen und Muster des Umgangs und der Geselligkeit. Allerdings trocknete auch diese Quelle neuer Sinnfindung alsbald aus. Mit der institutionellen Stabilisierung der christlichen Kirche seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde auch in ihrem Inneren der Raum für intersubjektive Selbstverwirklichung eingeschränkt und schließlich beseitigt. Die Kirche, die sich stets als Gotteshaus, als Oikos definierte, brachte auch in ihrem Binnenraum Herrschaftsstrukturen hervor, die das soziale und politische Leben der Gemeinden korrumpierten und einen hierarchischen Apparat installierten, der nach und nach die Aktivität und Spontaneität der Gemeindemitglieder erstickte. Das fortdauernde Bedürfnis nach politischer Betätigung provozierte jedoch in der Folgezeit Abspaltungen und Neugründungen. Immer wieder rebellierten einzelne christliche Gruppen und Sekten gegen die Verknöcherung der Ekklesia. Das begann bereits in der Spätantike und wiederholte sich in der Geschichte immer wieder, bis die Universalkirche in der Frühen Neuzeit zerbrach.
Von Demokratie war über lange Zeit nicht mehr die Rede; die Politikdenker der Spätantike und des frühen Mittelalters hatten jedoch andere Probleme zu lösen. Sie schrieben Fürstenspiegel und erörterten das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt. Im christlichen Abendland wurde nach der „Konstantinischen Wende“ (313 n. Chr.) die Vision eines universalen, die Welt umspannenden Reiches leitend, das durch das Miteinander von Kaiser- und Papsttum errichtet werden sollte. Erst infolge der Erschütterung dieser Vorstellung durch die beginnenden Kämpfe zwischen Imperium/Regnum und Sacerdotium und mit dem Aufstieg der oberitalienischen Städte im hohen und späten Mittelalter schien Demokratie wieder denk- und machbar. Die Kaiser sahen sich mit Königen und Fürsten konfrontiert, die in weltlichen Dingen keinen Höheren mehr anerkennen wollten und sich selbst als oberste Gesetzgeber und Richter ihrer Königreiche oder Fürstentümer begriffen. Hinzu kam das Bürgertum der aufstrebenden Städte, das in die laufenden Auseinandersetzungen hineingerissen wurde, für Autonomie und Mitbestimmung in den kommunalen Angelegenheiten kämpfte und sich gegen die Willkür der aristokratischen Mächte, aber auch gegen einzelne Monarchen wehrte. In diesen Auseinandersetzungen wurden die Grundlagen für die neuzeitliche Entwicklung gelegt. In den großen philosophischen Debatten des Spätmittelalters – Aristoteles-Rezeption, Armutsstreit, Universalienstreit – sind theoretische Klärungen erreicht worden, die für die künftige Philosophie bahnbrechend wurden.
Entscheidend für die Entstehung einer autonomen, der Definitionsmacht der Religion entronnenen politischen Theorie wurde die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts begann. Während Moses Maimonides (1135/38-1204) eine Synthese zwischen jüdischem und aristotelischem Denken erstrebte, die später von Baruch de Spinoza und Moses Mendelssohn (1729-1786) aufgegriffen wurde, gelang Thomas von Aquin (1225-1274) eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken, die zum Ausgangspunkt für die späteren christlichen Aristoteliker Aegidius Romanus, Jean Quidort von Paris, Dante Alighieri, Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham u. a. wurde, die allesamt mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationaler Argumentation und Bibel-Zitaten ihre jeweiligen politischen Optionen begründeten. Zwar führte die Aristoteles-Rezeption nicht unmittelbar zum Postulat der Demokratie, vielmehr ließen sich die unterschiedlichsten Ordnungsvorstellungen in ihrem Gefolge begründen (Pluralität weltlicher Fürstentümer, päpstliche Weltherrschaft, Souveränität der französischen Monarchie, Weltkaisertum etc.), doch lag ihr Gedanke greifbar nahe. Einen ersten Durchbruch erreichte Marsilius von Padua (ca. 1275/80 bis ca. 1342), der die Wege zu einem möglichen Frieden untersuchte und die Chancen der städtischen Selbstverwaltung und der Partizipation der Bürger erörterte. Er begründete die Idee der Volkssouveränität und wurde dadurch zu einem Meilenstein der modernen Demokratietheorie. Mit ihm beginnt deshalb die folgende Präsentation.
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