Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Herausgegeben von Georg Peter Landmann. München 1991. Gekürzte Auszüge, Buch II 37 und 40, S. 140-142. © Berlin: De Gruyter, 2014
Interpretation
Thukydides von Athen (ca. 460 bis kurz nach 400 v. Chr.) schildert in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges den Krieg, den die Athener und die Spartaner 431-404 v. Chr. gegeneinander führten. Er blickt zunächst auf die ältere griechische Geschichte zurück und beschreibt sodann minuziös die Entstehung, den Verlauf und die Folgen des mörderischen Bruderkrieges, der mit der Niederlage Athens endete. Die Gründe für den Aufstieg und den Niedergang der attischen Polis findet er im ungezügelten und rücksichtslosen Machtstreben der Athener, das er auf die menschliche Natur zurückführt, auf das angeborene Streben der Menschen nach Freiheit einerseits, nach Macht und Herrschaft andererseits. Dadurch wurde er zum Begründer der sog. „realistischen“ Politikbetrachtung. Von ihm wurde nicht nur Nietzsches Konzept des Willens zur Macht, sondern auch Thomas Hobbes inspiriert, dessen erste literarische Produktion die 1629 erschienene englische Übersetzung des Peloponnesischen Krieges war. Entsprechend gilt Thukydides heute als Ahnherr des Dezisionismus, da er das jeweils geltende Recht, den nómos, als ein normativ aus dem Nichts geborenes Resultat politischer Kämpfe und die Politik selbst nicht als Miteinander-Reden und -Handeln und als Sorge ums Gemeinwohl, sondern als Machtkampf begriff. Zugleich leistete er einen wichtigen Beitrag zur Selbstreflexion der attischen Demokratie und beschrieb deren Stärken und Schwächen. Waren die Perserkriege (490-479 v. Chr.) zum Fanal des Aufstiegs der demokratischen Polis in Attika geworden, so wurde der Peloponnesische Krieg zum Fanal des Niedergangs und der Zerrüttung. Die Volksherrschaft erschöpfte darin ihre Energien. Sie hatte überwältigende Erfolge erzielt und bahnbrechende Leistungen erbracht, die ihr aber schließlich zum Verhängnis wurden. Wie Thukydides betont, entwickelte gerade das demokratische Athen einen ausgeprägten Machtinstinkt und stieg durch seine Rücksichtslosigkeit gegen die verbündeten Poleis seit dem Ersten Attischen Seebund (478/77 v. Chr.) zur vorherrschenden Macht in der Ägäis auf (bes. I, 88, 118). Dieser Machtwille war es, der die Athener in den mörderischen Krieg mit Sparta trieb und so ihren Untergang einleitete. In den endlosen Schlachten und den mit ihnen verbundenen inneren Konflikten wurden die Kräfte der Bürgerschaft zerschlissen.
Der vorstehende Text enthält die berühmte „Leichenrede“, die Perikles (ca. 500-429 v. Chr.) nach dem Zeugnis des Thukydides im Winter 431/30 v. Chr. anlässlich des Begräbnisses der ersten Gefallenen gehalten hat. Er verteidigt den von ihm selbst betriebenen Krieg, indem er ihn als Verteidigungskrieg Athens ausgibt, der die Opfer der Athener rechtfertige. Er rühmt die Taten der Vorfahren und vor allem seiner Zeitgenossen, die der athenischen Kultur zu ihrer Blüte verholfen und die Polis mit allem ausgerüstet hatten, sodass sie im Krieg wie im Frieden völlig unabhängig wurde. Die Besonderheit der politischen Ordnung Athens, die sie zum Vorbild für ihre Nachbarn mache, sei die Demokratie, in der alle Männer mit Bürgerrecht vor dem Gesetz gleich sind und tatkräftig an der Selbstverwaltung mitwirken. Sowohl die Rechtsgleichheit als auch die Volksherrschaft gelten unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Stand. Arme wie reiche Bürger haben die gleichen Rechte, der attische Adel besitzt keine Privilegien, er muss sich seit dem Sturz des Areopags unter Ephialtes (462 v. Chr.) mit den unteren Schichten arrangieren. Dadurch sei Athen Sparta weit überlegen, dessen Verfassung einseitig auf den Krieg ausgerichtet war. Diesen Aspekt greift Platon dann in der Politeia auf (s. u.). Allerdings war die politische Beteiligung nicht nur ein Recht, sondern auch ein Zwang, wie Perikles auf der Begräbnisfeier bekundet: „Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.“ Schon unter Solon (ca. 640 bis nach 561 v. Chr.) hatte ein Bürgerrechtsgesetz für Athen verbindlich festgelegt, dass derjenige, der während eines Aufruhrs in der Stadt nicht für eine der beiden Parteien zu den Waffen greift, seine Ehre und seine bürgerlichen Rechte verliert und aus der Gemeinde ausscheiden muss. Künftig mussten sich die Bürger auch in ruhigeren Zeiten für die Polis engagieren. Die Gestaltung des Gemeinschaftslebens war seit den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) Aufgabe und Pflicht aller, die ferner an der Selbstverwaltung partizipieren und ihren Beitrag zur Schaffung von Ordnung leisten mussten. Wer sich weigerte, ein Amt zu übernehmen oder in der Amtsführung erfolglos blieb, verlor seine Bürgerrechte und wurde verbannt – wie Thukydides selbst, der 424 v. Chr. Stratege in Thrakien war, für die militärische Niederlage bei Amphipolis verantwortlich gemacht und für ca. zwanzig Jahre aus Athen vertrieben wurde.
Sowohl durch diesen Zwang als auch durch die Begeisterung der Bürger für die Politik war das Engagement der mittleren und unteren Schichten mit der Zeit so mächtig geworden, dass Perikles bereits 451 v. Chr. ein Bürgerrechtsgesetz verabschieden ließ, das festlegte, attischer Vollbürger könne fernerhin nur sein, wer beiderseits von Athenern abstamme. Im Verlauf des Krieges baute er zudem seine Rolle als Demagoge so stark aus, dass Thukydides bemerkte, die von ihm gelenkte Polis sei „dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes“ (II, 65) gewesen. Als Perikles 429 v. Chr. der Pest zum Opfer fiel, wurde seine Rolle als „Volksführer“ von Epigonen übernommen, die weniger das Wohl der Bürgerschaft als ihre eigenen Machtinteressen im Auge hatten und so den Niedergang der attischen Polis beförderten. Diesen aufzuhalten und die Bürger zu neuem Engagement zu ermuntern, war das Bestreben der Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles, die zwar keine Anhänger, sondern vielmehr Gegner der Demokratie waren, die aber dennoch die Polis stabilisieren und stärken wollten.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2035
Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth
Politeia (ca. 387 v. Chr.)
10. Die Demokratie ist nun offenbar das nächste, was wir betrachten müssen: auf welche Weise sie entsteht und wie ihr Charakter beschaffen