Demokratietheorien. Rieke Trimcev. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rieke Trimcev
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783734412417
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      Der hier abgedruckte Text entstammt dem politikphilosophischen Hauptwerk Platons (427/29-347 v. Chr.), der Politeia – zumeist mit dem anachronistischen und irreführenden Titel „Der Staat“ ins Deutsche übersetzt. Die Polis, Organisationsprinzip und Verwaltungseinheit im antiken Griechenland der archaischen und klassischen Zeit, war kein Staat, da ihr die entscheidenden Wesensmerkmale der so bezeichneten politischen Form fehlten: Souveränität nach innen und nach außen, Konzentration und Verselbstständigung der politischen Entscheidungs- und herrschaftlichen Zwangsgewalt durch stehende Heere und Bürokratie. Im Gegensatz zu dieser neuzeitlichen Organisationsform war die Polis kein verselbstständigter politischer Apparat, sondern die autarke Bürgerschaft, die sich selbst bestimmte und regierte. Dementsprechend befasst sich Platons Politeia nicht mit dem Aufbau und den Strukturen eines hierarchisch geordneten und bürokratisch verwalteten „Staates“, sondern vielmehr mit den Bedingungen und Formen, Institutionen und Normen der bürgerlichen Selbstverwaltung, mit der Verfassung, der Zusammensetzung, den Sitten und Institutionen der antiken Bürgerschaft, die ihre Probleme nicht an einen Staat delegieren konnte, sondern in Eigenregie lösen musste. (Da kein deutsches Synonym existiert, sollte auf eine Übersetzung des Begriffs Polis verzichtet werden.)

      In den Frühdialogen konzentrierte sich Platon auf die Sitten und Umgangsformen. In einer schroffen Kritik des sophistischen Wahrheits- und Werterelativismus suchte er zu zeigen, dass sich ein „richtiges“, ein vernünftiges und glückliches, ein gerechtes, ehrenwertes und zufriedenes Leben nur führen lässt, wenn man allgemeine Interessen verfolgt und sich um Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit bemüht. Tugend oder Tüchtigkeit (areté) sei aber nur als Einheit aller ihrer einzelnen Momente möglich: als Ganzes aus Tapferkeit (andreía), Besonnenheit (sōphrosýne), Gerechtigkeit (dikai¯os’yne), Frömmigkeit (eúsébeia) und Einsicht/Klugheit/Weisheit (sophía) – unter der strengen Kontrolle und Leitung der Vernunft (lógos). Keine dieser Tugenden könne für sich, ohne alle anderen sein. Alle komplettieren sich im einzelnen Menschen zu einem Ganzen, das entweder als Totalität aller Einzelmomente oder aber gar nicht existiert (vgl. Laches, 199c-e; Charmides, 166e; Protagoras, 329c, d; 349b ff.; Gorgias, 481b ff. und passim). Platons Tugendideal war demnach die allseitig entwickelte Persönlichkeit, die nicht auf Einzelheiten fixiert ist und einzelne Vermögen oder Kräfte auf Kosten der anderen ausbaut, sondern sich um die gleichmäßige Entwicklung aller Anlagen bemüht. Nur dann könne das menschliche Zusammenleben in vernünftige Bahnen zurückgelenkt und die Polis zu einem harmonischen Ganzen werden. Im Anschluss an die sokratische Kritik an den Sophisten lehrte Platon, dass Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit nicht lehrbar ist, dass jeder Einzelne sie für sich selbst erringen muss, indem er seine Triebe und Leidenschaften durch Vernunft und Einsicht zügelt.

      Neben der sokratischen Ethik wurde die Ontologie des Parmenides zur zweiten Säule, auf der Platons Philosophie errichtet wurde, die Suche nach dem Sein des Seienden, nach dem Festen und Ruhenden hinter den Erscheinungen. Die Synthese beider Fragestellungen führte zur Ideenlehre, wie sie in der Politeia entwickelt ist (vgl. 502d ff.). Durch sie gewann Platon den Maßstab, mit dessen Hilfe sich Wahres von Falschem, gesichertes Wissen (epistéme) von bloßer Meinung (dóxa) sowie Gutes von Schlechtem unterscheiden ließ. Der letzte Grund der menschlichen wie natürlichen Dinge liegt demnach in den Ideen, die Platon als Urbilder aller empirischen Erscheinungen begreift. Sie vermitteln den einzelnen Erfahrungstatsachen Zusammenhalt und Struktur. Die ordnungsstiftenden Ideen sind keine bloßen Behelfskonstrukte des denkenden Kopfes, der sich mit ihrer Hilfe Orientierung verschafft und das Erfahrungsmaterial zurechtlegt, sie sind subsistierende Wesenheiten und für Platon das eigentlich Reale und Existierende. Die konkreten Phänomene dagegen gelten als bloße,