Platons Politeia wurde gelegentlich als Utopie und als Chimäre, als müßige Konstruktion des denkenden Kopfes kritisiert, die, wie die Erfahrung lehre, entweder keine Chance auf Verwirklichung habe oder aber, wo sie versucht würde, zwangsläufig zu „totalitären“ Verhältnissen führe. Mit dem zweiten Argument werden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in die Antike rückprojiziert. Das erste brachte bereits Immanuel Kant, außerhalb jeglichen Totalitarismus-Verdachtes stehend, in Rage, der – ähnlich wie später auch Hegel – solchen Feststellungen entgegenhielt, nichts könne „Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten“ (Kritik der reinen Vernunft, A 316/B 372 f.). Legt man die Maßstäbe der heutigen Weltanschauung an, so ist nicht zu leugnen, dass Platons Grundidee – Erziehung der Bürger zu Tugendhaftigkeit oder Tüchtigkeit – „antiliberale“ Implikationen und Konsequenzen hat. Der Liberalismus entstand jedoch erst zweitausend Jahre später. Die Ideen der repräsentativen Demokratie und des bürgerlichen Rechtsstaates waren seinerzeit noch nicht entwickelt. Das große Ziel der klassischen griechischen Philosophie war die Krisenbewältigung, die Restitution der zerrütteten Polis und die Wiedergewinnung der zerfallenen Sittlichkeit. Dafür war Platon bereit, autoritäre Einrichtungen und die Aufhebung der Trennung des Öffentlichen und Privaten in Kauf zu nehmen. Auch die familiale Sphäre und das Privatleben der Bürger sollte von den Wächtern kontrolliert werden. Verlangt wurde die bedingungslose Aufopferung der Einzelnen für ihr Gemeinwesen. Jegliche Rückzugsrechte wurden verweigert. Erst der moderne Liberalismus hat die Konsequenzen aus dem Scheitern „erziehungsdiktatorischer“ Konzeptionen gezogen und die Befreiung der Individuen aus holistischen Strukturen gefordert. Es war Adam Smith, der erkannte, dass kein Mensch, weder ein Philosoph noch ein Staatsmann, verbindlich begründen kann, was für jeden Einzelnen das Beste ist. Deshalb sollte es jedem selbst überlassen bleiben, nach welcher Fasson er selig werden möchte. Die Folge war das von Platon konstatierte Überhandnehmen der Freiheit, die alles andere (Tugendhaftigkeit/Tüchtigkeit, Solidarität etc.) neben sich als gleichgültig erscheinen ließ. Da auch diese Entwicklung ungeahnte Risiken und ungewollte Nebenwirkungen mit sich führte, mehren sich heute wieder die Stimmen, die eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der antiken Ethik verlangen und den modernen Freiheits- mit dem antiken Gemeinschaftsgedanken konfrontieren (Kommunitarismus, Neoaristotelismus). Der Erste, der in diesem Rahmen versuchte, die allzu rigiden Vorschläge Platons zu mildern und zu korrigieren, war sein Schüler Aristoteles.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2036
Aristoteles: Theorie der Mischverfassung
Ausgewählt und interpretiert von Klaus Roth
Politik (ca. 345-325 v. Chr.)
6. Unterschiede der Staatsverfassungen (politeía)
(1. a) Nachdem aber dies festgestellt ist, schließt sich hier zunächst die weitere Untersuchung an, ob man mehrere Verfassungen (politeía) oder nur eine anzunehmen hat, und wenn mehrere, welche dies sind und wieviele und welches ihre Unterschiede sind. Nun ist ja Verfassung die Ordnung (táxis) des Staates (pólis) in bezug auf die Staatsämter (arché) und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung (políteuma), und diese wiederum ist die Verfassung. (b) Zum Beispiel in den demokratischen Verfassungen ist das Volk (dêmos) oberste Staatsgewalt, in den Oligarchien dagegen die Wenigen, und eben deshalb nennen wir dort die Verfassung eine andere als hier, und ganz nach demselben Gesichtspunkt werden wir auch über alle anderen Verfassungen urteilen. (c) Demgemäß muß denn nun die Grundlage fürs erste der Zweck ausmachen, um dessentwillen der Staat sich gebildet hat, und sodann die Frage, wieviel Arten des Regierens es für den Menschen und seine Lebensgemeinschaft gibt. Da haben wir aber in den Anfängen unserer ganzen Erörterung, in denen die Bestimmungen über die Hausverwaltung (oikonomía) und das Verhältnis des Herrn zum Sklaven (despoteía) getroffen wurden, auch gesagt, daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist. Und aus diesem Grunde treibt es denn die Menschen, auch ganz abgesehen von dem Bedürfnis gegenseitiger Unterstützung, zum Zusammenleben. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht auch der gemeinsame Nutzen sie zusammenführt, insoweit einem jeden sein Teil zukommt an der Vollendung des Lebens. Vielmehr ist dies gerade das eigentliche Ziel (télos), das sie alle gemeinsam und jeder einzelne für sich dabei verfolgen, jedoch auch schon um der bloßen Erhaltung des Lebens willen treten sie zusammen und halten an der staatlichen Gemeinschaft (politiké koinõnía) fest. Denn im Leben liegt, wie es scheint, eben schon selber ein Teil des Guten, solange nicht die Art, wie man lebt, allzu drückende Lasten mit sich bringt. Sieht man doch, daß die große Mehrzahl der Menschen aus Liebe zum Leben viel Ungemach zu ertragen bereit ist, so daß doch wohl in demselben schon ein gewisses Glück und eine natürliche Süßigkeit liegen muß.
(2. a) Aber auch die in Frage stehenden Arten des Regierens sind nicht schwer zu unterscheiden, denn schon im gewöhnlichen Verkehr pflegen wir häufig die Bestimmungen über sie zu treffen. Die Herrschaft des Herrn über den Sklaven (despoteía) nämlich, obwohl in Wahrheit der Vorteil des Sklaven von Natur und des Herrn (despótes) von Natur derselbe ist, wird dennoch im eigentlichen Sinne zum Vorteil des Herrn und zu dem des Sklaven nur zufällig (katà symbebekós) ausgeübt, nämlich nur insofern, als die Herrschaft nicht aufrechterhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. (b) Die Regierung dagegen über Weib und Kind und das ganze Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, besteht um der Regierten oder, wenn man lieber sagen will: um des gemeinsamen Wohles beider Teile willen, doch an sich nur um desjenigen der Regierten und abgeleiteterweise auch um der Regierenden willen, wie wir ja ein ähnliches Verhältnis bei anderen Künsten (téchne), wie z.B. der Heilkunst und der Gymnastik wahrnehmen. Denn nichts hindert ja den Gymnastikmeister, zuweilen auch selber einer von den Athleten zu sein, so gut wie der Schiffsführer immer auch zugleich einer der Schiffsleute ist: Gymnastikmeister und Schiffsführer haben nun aber das Wohl derer, die sie regieren, im Auge; sofern sie aber selbst einer von diesen sind, kommt in abgeleiteter Weise der Vorteil derselben auch ihnen mit zugute, denn der eine ist eben auch ein Schiffsmann und der andere wird, obwohl er Gymnastikmeister ist, doch selber einer der Athleten. Hiernach war denn auch in bezug auf die Regierungsämter im Staat, wo derselbe auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gegründet ist, das Verlangen der letzteren, daß die Bekleidung der Ämter unter ihnen abwechsle, früher der Natur der Sache entsprechend darauf gerichtet, daß man abwechselnd dem Staate diene und daß für das Wohl eines jeden auch wieder einmal ein anderer sorge, gleichwie er selbst vorher als Regierender für das Beste dieses anderen gesorgt habe; jetzt aber möchte jeder wegen der Vorteile, die ihm aus Staatsmitteln durch sein Amt erwachsen, gern für immer an der Regierung bleiben, und es ist gerade, wie wenn die Leute alle kränklich wären und der Besitz der Ämter ihnen die Gesundheit brächte, denn dann würden sie sich auch wohl nicht mehr um sie reißen. (c) Hieraus erhellt denn nun, daß alle diejenigen Verfassungen, welche den gemeinsamen Nutzen im Auge haben, richtige sind nach dem Recht (díkaion) schlechthin, diejenigen dagegen, welche nur den eigenen Vorteil der Regierenden, fehlerhafte und sämtlich bloße Abarten der richtigen Verfassungen, denn sie sind despotisch, während doch der Staat eine Gemeinschaft von freien Leuten ist.
7. Verfassungsformen
(1.)