Die Polis – als agierende und interagierende Bürgerschaft – realisiert bei Aristoteles jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon in seinen späten Dialogen, im Politikos und in den Nomoi, begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum der Politik steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275b18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so wirft Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, dass es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130a15 ff.; Politik I, 1256b40 ff.). In diesem Rahmen entwickelt Aristoteles den Gedanken der Billigkeit (epieíkeia), der auch in heutigen Diskussionen fortwirkt. Zugleich gelangt er zur Idee der Gleichheit, die aber nicht auf die numerische, sondern auf die qualitative Gleichheit der Menschen zielt, die von ihrer jeweiligen Würde und Leistung abhängt. Das Wesen der Gerechtigkeit besteht demnach in der Gleichbehandlung, der Fürsorge und im Sich-Kümmern um die anderen Menschen.
Platons Lehre, wonach das höchste Ziel einer vernünftig eingerichteten Polis die größtmögliche Einheit und deshalb die Weiber- und Kindergemeinschaft nötig sei, wird einer scharfen Kritik unterzogen (Politik II, 1261a10 ff.). Aristoteles insistiert auf der Trennung des Öffentlichen und Privaten. Die Polis dürfe nicht als große Familie bzw. als Haushalt (oîkos) missverstanden werden. Ihr Wesen sei nicht Einheit, sondern Vielheit, sie müsse die Unterschiede zwischen den einzelnen Familien respektieren und dürfe ihre Freiheit nicht beschneiden (II, 1261a16 ff.). Das Endziel der Verfassung sei die Glückseligkeit der Bürger, die in der vollkommenen Verwirklichung und Anwendung der Tugend (areté) besteht (VII, 1332a5 ff.). Die Tugend aber sei bedingt durch die Natur (phýsis), die Gewöhnung (éthos) und die Vernunft (lógos). Zwar sind einzelne zur Tüchtigkeit erforderliche Charaktereigenschaften durch die Erbanlagen festgelegt, doch müssen die meisten erst durch Sozialisation und Lernprozesse aktiv erworben werden. Ihrer Entfaltung hat die Erziehung in der Polis zu dienen (VII, 1332b12 ff.).
Obgleich die Prinzipien seiner Ethik den Gedanken der Demokratie nahe legen, war Aristoteles ein Gegner und Verächter derselben. Ähnlich wie zuvor Platon (Politikos, 291 c ff., 301 a ff., 303 a, b), unterscheidet auch er sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische setzt er eine normative Unterscheidung, indem er Monarchie, Aristokratie und Demokratie nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert (siehe den obigen Auszug). Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft jeweils ausgeübt wird. Ist das Tun der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am eigenen Nutzen der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Entsprechend ergibt sich folgendes Schema:
gute Formen | schlechte Formen |
Monarchie | Tyrannis |
Aristokratie | Oligarchie |
Politie | Demokratie |
Diese Ordnungen müssen nicht, wie Platon meinte, in einem endlosen Kreislauf ineinander über- oder auseinander hervorgehen. Vielmehr gelangt Aristoteles bei der Analyse der Umwälzungen (metabolé) der Verfassungen (politeía) zu einer Kritik an Platons Verfallstheorie (Politik V,12,1312b11 ff.). Eine Regierungsform verwandelt sich nicht zwangsläufig in die ihr nächstliegende. Sie kann durch alle möglichen abgelöst werden. Die Transformation der Aristokratie in die Oligarchie erfolge ferner nicht dadurch, dass die Regenten geld- und wuchersüchtig werden, sondern weil die Reichen es nicht für richtig halten, dass die Besitzlosen die gleichen politischen Rechte haben (Politik V,1316b1 ff.). Die Monarchie gilt als eine gute oder richtige Verfassungsform, sofern der Alleinregent sich an die geltenden Gesetze bindet und das Wohlergehen der Allgemeinheit im Auge hat. Es sei aber besser, wenn die Entscheidungen der Regierung von einer Mehrzahl guter Männer getroffen werden als von einem Einzelnen, vorausgesetzt, dass diese Männer nicht gegen das Gesetz verstoßen (Politik III,15,1286a25 ff.). Das konstitutive Prinzip der Aristokratie erblickt Aristoteles in der Tugend, das der Oligarchie im Reichtum. Die Demokratie/Politie hingegen basiere auf der Freiheit (Politik IV,8,1294a10 f.). Da Aristoteles den ärmeren Schichten unterstellt, sie würden blindlings ihren Volksführern folgen, die ihrerseits nur ihre eigenen Interessen verfolgen und die Wohlhabenden übervorteilen und unterdrücken (Politik V,9,1310a2 ff.), sucht er nach einer Ordnung, in der die Interessen Aller gleichermaßen zur Geltung kommen, in der also ein Ausgleich möglich wird. Präferiert wird die Politie, in der die wenigen Reichen insgesamt so viel Gewicht haben wie die vielen Armen (Zensusstimmrecht) und alle Bürger sich im Sinne eines Rotationsprinzips in der Rolle der Regenten und Regierten abwechseln (I,12,1259b4 ff.; VI,2,1317b1). Weil alle „reinen“ Formen die Gefahr des Abgleitens in ihr negatives Gegenüber in sich bergen, empfiehlt Aristoteles den Völkern, sie mögen die einzelnen Prinzipien durch einander relativieren und Mischverfassungen – er nennt sie ebenfalls Politie – institutionalisieren.
Dieser Vorschlag wurde in der Folgezeit beherzigt. Zwar wurden die demokratischen Einrichtungen in Athen beibehalten, doch wurden sie zusehends ihrer Substanz beraubt. Die politische Macht geriet in die Hände der alten Eliten, die Masse der Armen verzichtete gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach und nach auf ihr Bürgerrecht. Sie zog sich freiwillig aus der Politik zurück und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen. Die Demokratie verwandelte sich in die Oligarchie der Honoratioren. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation. Die Rolle des Monarchen in der praktizierten Mischverfassung übernahm der einstige Zögling des Aristoteles, der Makedonier Alexander der Große, der die Ära der autonomen Poleis 338 v. Chr. beendete, indem er sie unterwarf und seinem Weltreich eingliederte. Die Idee der Mischverfassung blieb jedoch lebendig. Sie wurde von den Peripatetikern hochgehalten und gelangte von ihnen zu den Anhängern und Verteidigern der römischen Republik (Polybios, Cicero). Auch in der Moderne wurde dem aristotelischen Ratschlag entsprochen. In den repräsentativen Demokratien westlichen Typs wurden Verfassungen institutionalisiert, in denen sich die drei Regierungsformen gegenseitig relativieren und balancieren: alle Bürger („Demokratie“) wählen einige ins Parlament („Aristokratie“), die wiederum einen zum Kanzler oder Präsidenten berufen, der alleine die Richtlinien der Politik bestimmt („Monarchie“). In Präsidialsystemen erfolgt auch noch die Wahl des „Monarchen“ durch das souveräne Volk. Es handelt sich folglich um Mischverfassungen, die im Sinne des Aristoteles die drei gegensätzlichen Prinzipien miteinander verschränken und konstitutionell begrenzen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr um Poleis, sondern um Staaten, die mithilfe von Bürokratien und stehenden Heeren das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausüben.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2037