Demokratietheorien. Rieke Trimcev. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rieke Trimcev
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783734412417
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Ziele verfolgt, die außerhalb der Tätigkeit gelegen sind (Nikomachische Ethik VI, 1139a36 ff., 1140b6). Das politische Engagement, die Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Polis und ihren Unterabteilungen, gilt folglich als Selbstzweck und als unverzichtbares Moment eines geglückten oder glücklichen Lebens (Politik VII, 1324a5 ff.).

      Die Polis – als agierende und interagierende Bürgerschaft – realisiert bei Aristoteles jene Gesetzesherrschaft oder Nomokratie, die Platon in seinen späten Dialogen, im Politikos und in den Nomoi, begründet hatte. Der Akzent liegt nunmehr eindeutig auf der Ordnung, auf den Ämtern und Institutionen, die dem richtigen und guten Leben dienen sollen. Im Zentrum der Politik steht die Politeía, die Verfassung und die Ämterordnung. Als Bürger gilt jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat (Politik III, 1275b18 ff.). Ausgeschlossen bleiben Frauen und Sklaven. Hatte Platon noch die „ökonomische“ Freiheit, den Warentausch und das Privateigentum, aus der guten Polis und der Idee der Gerechtigkeit verbannt, da sie die Gefahr, ja die Notwendigkeit des Betruges in sich birgt, so wirft Aristoteles diesen Begründungszusammenhang über Bord, um zu zeigen, dass es neben der universalen Gerechtigkeit noch partikulare Formen derselben gibt: die distributive (austeilende), die kommutative (ordnende) und die ausgleichende oder wiedervergeltende, kurz: die Tausch-Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik V. 4. 1130a15 ff.; Politik I, 1256b40 ff.). In diesem Rahmen entwickelt Aristoteles den Gedanken der Billigkeit (epieíkeia), der auch in heutigen Diskussionen fortwirkt. Zugleich gelangt er zur Idee der Gleichheit, die aber nicht auf die numerische, sondern auf die qualitative Gleichheit der Menschen zielt, die von ihrer jeweiligen Würde und Leistung abhängt. Das Wesen der Gerechtigkeit besteht demnach in der Gleichbehandlung, der Fürsorge und im Sich-Kümmern um die anderen Menschen.

      Obgleich die Prinzipien seiner Ethik den Gedanken der Demokratie nahe legen, war Aristoteles ein Gegner und Verächter derselben. Ähnlich wie zuvor Platon (Politikos, 291 c ff., 301 a ff., 303 a, b), unterscheidet auch er sechs Regierungsformen, die sich aus der Verdoppelung der traditionellen Trias ergeben. Neben die numerische setzt er eine normative Unterscheidung, indem er Monarchie, Aristokratie und Demokratie nach ihrer Qualität befragt und in sich differenziert (siehe den obigen Auszug). Das Qualitätsmerkmal resultiert aus der Art, wie die Regentschaft jeweils ausgeübt wird. Ist das Tun der Regenten am Gemeinwohl orientiert, so ist die Regierung „gut“. Orientiert sie sich aber nur am eigenen Nutzen der Regenten selbst, so ist sie „schlecht“. Entsprechend ergibt sich folgendes Schema:

gute Formen schlechte Formen
Monarchie Tyrannis
Aristokratie Oligarchie
Politie Demokratie

      Dieser Vorschlag wurde in der Folgezeit beherzigt. Zwar wurden die demokratischen Einrichtungen in Athen beibehalten, doch wurden sie zusehends ihrer Substanz beraubt. Die politische Macht geriet in die Hände der alten Eliten, die Masse der Armen verzichtete gegen Ende des 4. Jahrhunderts nach und nach auf ihr Bürgerrecht. Sie zog sich freiwillig aus der Politik zurück und übertrug die städtische Macht den wenigen Reichen. Die Demokratie verwandelte sich in die Oligarchie der Honoratioren. Der antike Euergetismus, die Armenfürsorge der Wohlhabenden, ersetzte die politische Partizipation. Die Rolle des Monarchen in der praktizierten Mischverfassung übernahm der einstige Zögling des Aristoteles, der Makedonier Alexander der Große, der die Ära der autonomen Poleis 338 v. Chr. beendete, indem er sie unterwarf und seinem Weltreich eingliederte. Die Idee der Mischverfassung blieb jedoch lebendig. Sie wurde von den Peripatetikern hochgehalten und gelangte von ihnen zu den Anhängern und Verteidigern der römischen Republik (Polybios, Cicero). Auch in der Moderne wurde dem aristotelischen Ratschlag entsprochen. In den repräsentativen Demokratien westlichen Typs wurden Verfassungen institutionalisiert, in denen sich die drei Regierungsformen gegenseitig relativieren und balancieren: alle Bürger („Demokratie“) wählen einige ins Parlament („Aristokratie“), die wiederum einen zum Kanzler oder Präsidenten berufen, der alleine die Richtlinien der Politik bestimmt („Monarchie“). In Präsidialsystemen erfolgt auch noch die Wahl des „Monarchen“ durch das souveräne Volk. Es handelt sich folglich um Mischverfassungen, die im Sinne des Aristoteles die drei gegensätzlichen Prinzipien miteinander verschränken und konstitutionell begrenzen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht mehr um Poleis, sondern um Staaten, die mithilfe von Bürokratien und stehenden Heeren das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit ausüben.

      → Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2037