Das Osmanische Reich. Douglas Dozier Howard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Douglas Dozier Howard
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783534747030
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der sich aus der Ordnung nach Jahren (anni) ableitet; der türkische Terminus bedeutete wörtlich „Daten“ (tevarih, der Plural von tarih, „Datum“) – waren chronologisch geordnete Ereignislisten. Sie waren schmucklos und vorliterarisch, ohne offenkundige Analyseanteile. Die Annalen der Osmanenzeit erscheinen in takvim genannten Handschriften neben den Annalen anderer Dynastien.43 Takvim war ein Begriff aus der Astronomie, der eine jährliche Ephemeridentabelle bezeichnet, die für jeden einzelnen Tag des Jahres die Positionen von Sonne, Mond und Planeten angibt.44 Astrologen benutzten die Takvim, um individuelle Horoskope zu erstellen und den Ausgang von Ereignissen vorherzusagen. Die Verwendung des Begriffs takvim für Listen historischer Daten deutete darauf hin, dass Annalisten Daten für die Erforschung von Mustern und Verbindungen in historischen Ereignissen bereitstellen sollten. Denen, die sie erlebten, war der Sinn von Ereignissen manchmal zwar unklar, gleichwohl lautete die Prämisse der Astrologie, dass das menschliche Leben Teil einer ganzheitlichen Ökologie der Schöpfung sei, deren grundlegende Prinzipien und Bestimmung letztendlich der Vernunft zugänglich sein müssten.45 So wie die Bewegungen der Himmelskörper auf Einzelschicksale hindeuteten, so bildeten die Muster des historischen Verlaufs mit all seinen Überraschungen und Absonderlichkeiten ein Tableau der verborgenen Bestimmung der Gesellschaft.

      Man sollte den geistigen Tiefgang der Annalen nicht unterschätzen. Schließlich ging es in ihnen um die Zeit und deren Bedeutung. Annalen setzten dieselbe hochentwickelte, philosophisch fundierte Astronomie voraus, die der wissenschaftlichen Arbeit überall im südwestlichen Eurasien zugrunde lag. Es war jene Astronomie, die auch Kopernikus benutzte,46 und die in osmanischen Medresen und Tekken gelehrt wurde; dort verfügte man beispielsweise über eine neue türkische Übersetzung von Nasir al-Din Tusis grundlegendem Text über Kalender.47 Die ältesten bislang entdeckten osmanischen Annalen, die aus der Herrschaftszeit Sultan Murads II. stammen (1421–51), sind ihrerseits Kopien und Fortsetzungen noch älterer Texte. Die Praxis dürfte also fast bis in die Anfänge der Dynastie zurückreichen.48 Die Einträge führen schlicht Ereignisse auf, wobei sie sich der Formel bedienen: „Es ist so und so lange her, seit …“ Einer beginnt beispielsweise mit folgendem Satz: „Es ist 205 Jahre her, seit Osman Bey in Erscheinung trat.“49

      Die ersten Einträge sind kurz und vage, und die eigentlichen Ereignisse wurden durch wiederholtes Abschreiben heillos entstellt. Doch allmählich werden die Einträge ausführlicher und schließen nicht nur Feldzüge ein, sondern auch Geburten, Beschneidungen und Eheschließungen der Sultanssöhne, den Tod wichtiger Persönlichkeiten, Kometen und Sonnenfinsternisse samt der durch sie verursachten Panik sowie Katastrophen, etwa Erdbeben und Seuchen. Bei Hofe Annalen zu führen, war, anders gesagt, eine Methode, aktuelle Ereignisse in einen Kontext einzubetten, in dem sich politische Geschichte, Natur- und Heilsgeschichte vereinten.

      Indem sie Elemente von Gesten und Annalen verknüpften, schufen Aşıkpaşazade und andere Chronisten etwas, das sich von beiden Vorläufergattungen völlig unterschied. An die Stelle der Verwendung schauriger Schreckensbilder und grotesker Elemente in den Gesten und die moralische Neutralität der Annalen trat ein entschiedener Moralismus. Wo die Annalisten den Sinn der Zeitäufte im Dunkeln ließen, fassten Aşıkpaşazade und die Chroniken ihn in Worte – die verborgene Bestimmung der Gesellschaft war die schicksalhafte Ausdehnung der islamischen Souveränität mittels der gazas der Osmanensultane. Die osmanischen Siege über andere Muslime spielte Aşıkpaşazade herunter; er erwähnte auch nicht die christlichen Heere, die in Wirklichkeit als Vasallen an der Seite der Osmanen kämpften, und er zeigte keinerlei Interesse an der Art von spontanem interreligiösen Dialog, zu dem es gelegentlich kam, beispielsweise als der christliche Kaiser Manuel 1391 zusammen mit Sultan Bayezid Krieg gegen den Muslim Burhanettin von Sivas führte.50 Die politische Bedeutung der Chronik war der neuen Gattung inhärent: Der Stammbaum der Dynastie war eine Metapher für die Geschichte, deren Ziel die Ausdehnung der islamischen Souveränität auf die ganze Erde war.

      Die Gedichte, welche die Chroniken füllten, bündelten den persönlichen Beitrag des Autors und vermittelten im Gegensatz zur politischen Auslegung größtenteils ihre emotionale Lesart.51 Man benutzte mehrere Standardgedichtformen, wobei das erzählerisch gehaltene Mesnevi, ein in Paarreimen verfasstes Gedicht unterschiedlicher Länge, seiner formalen und emotionalen Flexibilität wegen den relativen Vorzug gegenüber den anderen Formen erhielt. Durch den Wechsel zwischen Poesie und Prosa-Anekdoten entledigten sich die Chroniken der Lust an der Gewalt in den Gesten und schlugen einen elegischen Tonfall an. Besonders Aşıkpaşazades Chronik, die den Sinn der Vergangenheit durch Entsprechungen zwischen Zahlensymbolik und Gedächtnis aufzeigte, geriet zu einer ausführlichen Meditation über die Vorsehung und die Zeit und handelte, wie jedes gute Geschichtswerk, ebenso sehr von der Gegenwart wie von der Vergangenheit.

      Aşıkpaşazade kam zu dem Schluss, dass Daten irgendwie mit Schicksalen verbunden waren.52 Die Spanne der menschlichen Geschichte sei festgelegt, so wie die Tage, die jedem Menschen zugemessen sind. Theologen und Gelehrte seien sich einig, schrieb er, dass seit der Sintflut des Propheten Noah vier Zeitalter vergangen seien.53 Auf dem Weg über eine Erörterung des hebräischen Kalenders und der Korrekturen an ihm kam er zu dem Schluss, dass von der Erschaffung Adams bis zur Hidschra des Propheten Mohammed, dem Beginn des islamischen Zeitalters, 6038 Jahre vergangen seien. Aus der Tora hatten abbasidische Gelehrte abgeleitet, dass die Welt genau 7000 Jahre bestehen werde. Das Ende der Welt musste also nahe sein. Nicht zu nahe, wie sich erwies – dieses letzte Zeitalter der Menschheitsgeschichte war durch das Erscheinen der Osmanen gesegnet. Aşıkpaşazade studierte Daten der Vergangenheit, um deren innere Wahrheit zu erfahren, sie sogar mit seinen eigenen Lebensdaten zu verknüpfen und so seine eigene Bestimmung zu verstehen. Schreiben war wie ein Gebet – ein mysteriöses, durch Worte wirkendes Mittel, das günstige Zusammentreffen von Ereignissen sicherzustellen. Der Akt des Aufschreibens der Daten selbst bedeute, ewige Zeichen zu transponieren.54

      Ein Annaleneintrag

      Annalisten vermerkten nicht nur Feldzüge und Einzelheiten der osmanischen Gebietsausdehnung, sondern auch die Umweltbedingungen des menschlichen Lebens und deren Folgen:

      Und seit man die Donau überquert, gegen die Walachen Krieg geführt und gekämpft und den größten Teil des Landes der Walachen verwüstet und geplündert und sie zu Gefangenen gemacht hat, seit Sultan Mehmed Han gefallen ist, seit sich in der Stadt Bursa und in der Provinz Rum nacheinander in Folge gewaltige Erdbeben ereignet haben und die Erde erschüttert wurde, seit in Bursa und Erzincan und an vielen Orten zahlreiche Gebäude verwüstet worden sind und seit nach Rum ungezählte und unvergleichlich viele Heuschrecken gekommen sind und an vielen Orten die Ernteerträge aufgefressen und verwüstet haben, und seit sie sich über ganz Rum ausgebreitet und ihre Samen verbreitet haben, sind es neunundzwanzig Jahre.a

      aÜbersetzung: Michael Reinhard Heß; Textgrundlage: Osman Turan (Hrsg.): İstanbul´un fethinden önce yazılmış tarihî takvimler, Ankara: Türk Tarih Kurumu Basımevi, 1954, S. 56f.

      Frömmigkeit, Überfluss und öffentliche Bauten

      Dank den Annalisten können wir annehmen, dass in etwa der Hälfte jener 29 Jahre, die Murad II. regierte (1421–51), kein größerer Feldzug unter Führung des Sultans unternommen wurde. In der Zeit zwischen der Rückeroberung von Saloniki (1430) und dem Einfall in Transsilvanien (Siebenbürgen) und Serbien (1438) scheint Murad in Edirne geblieben zu sein. Manchmal verbrachte er den Sommer in den Höhenlagen Anatoliens – in einem Jahr wegen einer Seuche, welche die Stadt heimsuchte.55 In dieser Zeit relativen Friedens machte sich Murad daran, nach den langen Jahren voller Kriege und Katastrophen die osmanischen Lande wieder aufzubauen.

      Einkünfte und Ausgaben galten als Posten zweier getrennter Kassen, der Staatskasse und der Privatschatulle des Sultans. In die Sultanskasse flossen das Fünftel, das seinen Anteil an Beute und Sklaven bildete, sowie die Tribute fremder Königreiche, Geschenke an den Herrscher und seine Familie und schließlich die Einkünfte aus Familienstiftungen. Aus diesem Topf wurden Familienausgaben bestritten. Die Sultane glaubten nicht, dass sie mit der Finanzierung des Wiederaufbaus zu etwas so Unpersönlichem wie der wirtschaftlichen Entwicklung beitrugen.56 Vielmehr hatte das, was sie schufen,