Dass es deswegen einen gewissen Wettbewerb zwischen den muslimischen Ordensgemeinschaften darum gab, eine enge dynastische Beziehung zwischen ihren jeweiligen Heiligen und den Osmanensultanen auszumachen, wird in einem prophetischen Traum ersichtlich, der in wechselnder Form in allen osmanischen Chroniken der Frühzeit auftaucht. Es heißt dort, der osmanische Sultan sei ein guter Muslim gewesen, der seine Gebete sprach und Gottes Namen stets auf den Lippen führte. Eines Nachts träumte ihm, er sehe den Mond in der Brust seines Scheichs auf- und in seiner eigenen Brust untergehen, wo daraufhin ein großer Baum Wurzeln geschlagen habe. Nach dem Traum bat der Sultan seinen Scheich darum, den Traum zu deuten. In den Chroniken herrscht Uneinigkeit über die Akteure – wer den Traum hatte und welcher Scheich dessen Bedeutung enthüllte.31 Eine Gruppe anonymer Chronisten schrieb übereinstimmend, dass Osmans Vater den Traum gehabt habe, war aber verschiedener Ansicht über den Traumdeuter.32 Aşıkpaşazade jedoch wies den Traum Osman persönlich zu und ließ ihn von einem gewissen Scheich Edebali auslegen. Der Scheich sprach: „Osman, mein Sohn, es ist ein günstiges Zeichen. Gott, gepriesen sei er, hat dir und deinen Nachkommen die Herrschaft verliehen. Mögest du wahrhaft gesegnet sein.“33 So verdankte sich der Erfolg der Osmanendynastie Scheich Edebali und keinem anderen heiligen Mann. Tatsächlich war Edebalis Tochter gar nicht, wie diese Version andeutet, die Mutter Orhans – Orhans Mutter war eine andere Frau.34 Aşıkpaşazade, der selbst dem Orden Scheich Edebalis angehörte, überging dieses Detail.
Abb. 2.1: Tekke („Ordenshaus“) von Hacı Bektaş in einem kappadokischen Dorf
Man beachte, dass die verschiedenen Parteien in der Debatte es alle für selbstverständlich nahmen, dass Träume eine Art Nachricht aus dem Jenseits seien, die mithilfe eines erfahrenen Sehers entschlüsselt werden könne. Zumindest gingen alle davon aus, dass die mystische Spiritualität von Derwischen schlichte islamische Frömmigkeit sei.
Moschee, Medrese und Tekke
Die muslimischen Mystiker (heutzutage üblicherweise als Sufis bezeichnet) fanden die Realität in Gott auf dem Weg des authentischen persönlichen Erlebens. Gott kannten sie aus der unmittelbaren Begegnung mit Gottes liebender Gegenwart. Von dieser göttlichen Begegnung sprachen die Sufis als von etwas Berauschendem. Wie von einem Geschlechtsakt. Gottes Liebe könne überwältigend sein – gewöhnlich bringe sie einen Menschen aus dem Gleichgewicht. In einer solchen Begegnung gebe es nichts als Güte und Gnade, und nichts anderes zähle daneben. Unter Anleitung eines Scheichs, eines Lehrers, der im Rahmen einer bestimmten erzieherischen Tradition wirke, würden die Schüler lernen, diese Erfahrung vermittels eines geistigen Reifungsprozesses zu bewältigen.
Nicht alle sahen das so. Nüchterne Muslime beeindruckte eher Gottes Ehrfurcht gebietende Reinheit. Sie verspürten das Bedürfnis, Gottes heilige Macht von den schnöden weltlichen Dingen abzugrenzen und mit nachdrücklich durchgesetzten Schranken zu schützen. Sufis fanden solche Grenzen fragwürdig und frustrierend. Einig waren sich alle darin, dass Gott sich in den „Zwei Büchern“ offenbare – einem heiligen Buch und der Schöpfung –, und dass das Leben der Menschen durch Beachtung dieser beiden „Bücher“ geordnet werde. Doch für Mystiker kam die Gotteserfahrung zuerst, und die Person des Menschen war ein Mikrokosmos. Die beiden „Bücher“, die Schöpfung und der Koran, besaßen jedes eine innere Struktur, die auf diese Erfahrung verwies und sie erläuterte.
Obwohl die Osmanensultane sich häufig für den Sufismus empfänglich zeigten, förderten sie auch den akademischen Islam und gewährleisteten die Kontinuität der islamischen Hochkultur. Die Integration von Sufismus und akademischem Islam durch die Osmanen wird aus Aşıkpaşazades Bericht darüber ersichtlich, wie die Sultane Medresen, höhere Bildungseinrichtungen, unterstützten.35 Viele frühosmanische Gelehrte waren Mystiker. Davud von Kayseri, der allererste Professor an der allerersten osmanischen Medrese in Bursa, war in dritter Generation ein Schüler von Sadrettin Konavi und verfasste einen Kommentar zu Ibn al-Arabis Einfassungen der Weisheit.36 Davuds Nachfolger an der Medrese von Bursa, Molla Fenari, der größte Gelehrte zur Zeit Bayezids, war der Sohn eines weiteren Koranschülers und verfasste neben einem Ibn-Arabi-Kommentar ein einflussreiches Lehrbuch der Logik. All das beschrieb Aşıkpaşazade als nichts Besonderes.
Institutionell waren die Medresen eng verknüpft mit der Autorität und dem Reichtum der Erobererdynastie und mit dem Vakıf, jenem leistungsfähigen Finanzinstrument, das ursprünglich entstanden war, um die Medrese auszustatten und zu finanzieren. Der standardisierte Lehrplan der Medrese bestand aus der Lektüre und dem Verständnis klassischer Texte unter strenger Aufsicht des Lehrpersonals. Er umfasste Koranexegese (tafsir), Rechtskunde (fıkıh), Hadithstudien, philosophische Theologie (kalam) und arabische Grammatik, aber auch Medizin, Mathematik, Astronomie und Mystik (tasavvuf). Die Absolventen der Medresen besetzten die Ämter und Gerichtshöfe der Sultane. Die Scharia – also die Zusammenfassung des Korans und der gelebten Praxis des Propheten Mohammed (der Sunna), ausgelegt im Rahmen einer der vier anerkannten Schulen des islamischen Rechtsdenkens – bildete die Grundlage der islamischen Gesellschaft. Wie türkische Herrscher überall in der afroeurasischen Welt forderten die osmanischen Sultane die hanafitische Rechtsauslegung, welche gewöhnlich die Ernennung weltlicher Herrscher qua göttlicher Vorsehung guthieß. Doch die Scharia allein hat damals wie heute nie genügt, um eine islamische Gesellschaft zu regieren. Stets stand sie neben dem dynastischen Recht, den weltlichen Dekreten der Sultane.
Die Medrese war in den Ländern der Osmanen nicht das einzige Institut für höhere Bildung. Auch die führenden Sufi-„Ordenshäuser“, die Tekken, dienten als Akademien zur Ausbildung in Künsten und Wissenschaften. Das Studium der Schöpfung und des Korans wurde hier durch Quellen und Methoden vertieft, welche die Verbindungen zwischen beiden offenlegen sollten, einschließlich der esoterischen Wissenschaften. Die hierarchische Struktur und das Meister-Schüler-Verhältnis in der Tekke gaben der dortigen Bildung einen anderen Anstrich als jener in der Medrese. In der Tekke bedeutete höhere Bildung nicht bloß Wissensvertiefung, sondern auch geistige Reifung mittels einer zielgerichten betreuten Ausbildung in den geistigen Disziplinen und eines Studiums der Grundlagentexte.
Die Moschee richtete die Gläubigen auf die Erfüllung der Ziele des Lebens aus, und zwar durch die Zugehörigkeit zur Bundesgemeinschaft des Gottesvolkes. Der Gottesdienst in der Moschee war die organisierte Antwort des Menschen auf Gott. Er gipfelte in jenem liturgischen Augenblick beim Freitagsgebet, wenn der Imam auf die Kanzel stieg, um die Ansprache (hutbe) zu halten, und die Versammelten die Antwort des Menschen auf Gott in der rituellen secd, der Niederwerfung, der Überantwortung an die Einzigkeit Gottes, verwirklichten. Dem gingen Ermahnungen und Erläuterungen der heiligen Schriften voraus. Als abschließende Verkündigung erkannte die Hutbe auch den Monarchen an, dessen irdischer Schutz, legitimiert durch den Kalifen, diese Versammlung ermöglichte. Mit den täglichen Gebeten wurde den Muslimen eingeschärft, stets rechtzeitig auf Gott zu antworten; die wöchentlichen Predigten sorgten im Verein mit regelmäßigen Rezitationen aus dem heiligen Buch für eine straffe Disziplin in der Gemeinde; und der Jahreszyklus aus Fasten und Feiern, Pilgerfahrt und Rückkehr war die gelebte menschliche Hidschra; der Koran drückt es folgendermaßen aus (2,156): „Wenn ein Unglück sie trifft“, dann ist unser einziger Trost im Leben und im Tod: „Wir gehören Gott, und wir kehren zu Ihm zurück.“37
Für Aşıkpaşazade und die Mystiker jedoch erfolgte die Gottesverehrung nicht nur in der Moschee, sondern auch in der Gesellschaft von Scheichs und Derwischen in der Tekke. Es gab verschiedene Arten von Tekken, darunter einige, die mit ihren ortsansässigen Derwischen an Klöster erinnerten. Alle verfügten über einen Betsaal. In den Versammlungen hörten die Gläubigen zunächst dem Scheich zu, der über einen spirituellen Stammbaum vom Gründer und dessen designierten Stellvertretern abstammte; Höhepunkt war der als zikr (Erinnerung) bezeichnete rituelle Sprechgesang, mit dem der Name Gottes angerufen wurde. So wie der Sprechgesang einen Menschen dazu anhielt, den Namen auf