Der Sancak und die Sicherheit
In den Annalen finden sich Anspielungen auf Verwaltungsstrukturen, die sich konkretisieren lassen, wenn man erhaltene Register des Gerichts von Bursa, die bis in die 1450er-Jahre zurückreichen, und Provinzakten aus der Herrschaft Murads II. nach dem dynastischen Bürgerkrieg heranzieht. Eine Doppelstruktur aus Zivil- und Militärverwaltung garantierte die Sicherheit in den Regionen. Die Zivilverwaltung lag dabei in den Händen des kadı genannten Magistrats, eines Beamten mit juristischer und religiöser Ausbildung, der einem Gericht der wichtigsten Stadt der Provinz vorstand. Die militärische Verwaltungseinheit war der sancak.
Der Begriff sancak hieß wörtlich übersetzt „Banner“ und meinte die Fahne, die das Symbol des Vasallenverhältnisses zu einem Lehnsherrn war und von dessen Truppen in der Schlacht mitgeführt wurde.73 „Herr“ heißt auf Türkisch bey, also lautete der Titel dieser Vasallenfürsten sancakbeyi, „Bannerherren“. Jeder Sancak war in mehrere vilayets aufgeteilt, jedes vilayet unterstand einem subaşı genannten Offizier. Die unter ihrem Kommando stehenden Reitersoldaten hießen Sipahis. Diese Bewaffneten waren sowohl für örtliche Polizeiaufgaben zuständig als auch für das Aufgebot zu den Feldzügen des Sultans. Erhalten sind Steuerkataster, das älteste von 1431/32 aus einem Sancak namens Arvanid (im nördlichen Epirus, heute in Albanien),74 die verzeichneten, welche Abgabenmengen von Feldern und Dörfern einzutreiben und als Sold an die Sipahis zu überweisen waren – diese Zuwendungen nannte man timar und ziamet. Das Kataster deckt nur ein ziemlich beschränktes Gebiet ab und wurde wahrscheinlich bei der Kolonisation von Arvanid erstellt, ein Ereignis, das wichtig genug war, um in ein erhaltenes Annalenwerk Aufnahme zu finden.75 Aber dies war nicht die erste derartige Steuerveranlagung von Gebieten unter osmanischer Herrschaft. Wie etwas spätere Register aus Thessalien, Bithynien, Ankara und Aydın berief sich auch das für Arvanid häufig auf ältere Aufzeichnungen. So verwies etwa das Kataster von 1451 für Aydın namentlich auf Sipahis, an die zuvor vier Generationen lang die gleichen Dorfeinkünfte geflossen waren, womit sie in die Zeit Murads I. zurückreichten.76 Die Genauigkeit und Regelmäßigkeit dieser Einträge lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Quelle ein schriftliches Dokument war.
Viele der in diesen Aufzeichnungen erwähnten Sipahis stammten von Vorfahren ab, die vor der osmanischen Eroberung unabhängigen Fürsten gedient hatten; auch die christlichen Ritter wurden nicht enteignet, als man westlich der Meerenge einstige christliche Königreiche mit Feudalstruktur in Sancaks umwandelte. Vielmehr erhielten sie Timare genau wie die türkischen Neuankömmlinge, von denen einige aus der Provinz Anatolien versetzt worden waren und andere als Sklavensoldaten in den Heeren der siegreichen türkischen Feldherren wie Evrenos und Turahan dienten.77 Im Arvanid-Register von 1431–32 waren 60 der 335 Sipahis Christen (17,9 Prozent), darunter ein Metropolit und drei Weih bischöfe. Diese Zahlen sind zeittypisch. Sogar einige der Schreiber, welche die Veranlagung durchführten, waren Christen. Im Gebiet um Vulchitrin (heute Vushtrria) und Pristina wurden rund 16 Prozent der von 1454–55 registrierten Timare von Christen bezogen; im gleichen Jahr waren es in Kırcheva (Kičevo) und Pirlipe (Prilep) 29 Prozent, in Vidin am Schwarzen Meer knapp unter 10 Prozent, in Thessalien lag der Anteil bei 47 Prozent. Im ersten Kataster für Bosnien (1469) war ein Drittel der Timare an Christen vergeben, und sieben weitere teilten sich Muslime und Christen.78 Als in einem Fall ein muslimischer Sipahi nicht rechtzeitig zum Feldzug erschien, wurde sein Timar einem christlichen Sipahi zugewiesen. Im thessalischen Register von ca. 1470 findet sich sogar der Fall eines fränkischen Deserteurs namens Gilbertus Cancelarius, der einen Timar erhielt. Später konvertierte er zum Islam und nahm den Namen Ahmed an.79 Allerdings scheint es so, als seien christliche Offiziere gegen eine Art gläserne Decke gestoßen – zwar gab es einen christlichen Subaşı in Arvanid, aber keine praktizierenden Christen unter den Sancakbeyis, dafür mehrere Konvertiten zum Islam. Auf der anderen Seite der Meerenge, in den Küstenregionen Kleinasiens, die inzwischen über ein Jahrhundert lang unter stabiler muslimischer Herrschaft standen, waren christliche Timarioten nichts gänzlich Unbekanntes, doch die militärische Kaste war überwiegend muslimisch.
Die grundlegende soziale Trennlinie in den osmanischen Katastern verlief somit nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen der Steuern zahlenden Untertanenschicht aus Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen und den Mitgliedern der herrschenden Schicht, die von der Besteuerung befreit waren. Die Osmanen hatten kein Interesse daran, allgemein vertretene Ansichten über die soziale Schichtung über den Haufen zu werfen. Ihre Armee, die sich auf die Provinzen stützte, umfasste die erblichen Rittereliten der Vorläufer der Osmanen, die als Kaste askeri (Militär) genannt wurden, ob sie nun christlich oder muslimisch waren. Zu den Mitgliedern der Untertanenschicht, reaya genannt, zählten christliche und muslimische Dörfler gleichermaßen.
Der osmanische Verwaltungsdienst
Wenn sich die osmanische Ordnung durch eine revolutionäre Eigenschaft auszeichnete, dann war das ihre Dokumentationswut. Das Sancak-System zeigt nicht nur eine undurchsichtige Struktur der Kontrolle und Einkünfte-Erfassung, mit seinen Erhebungen und Unterlagen lässt es auch einen Drang zur Konservierung und zum Abfassen von Denkschriften erkennen. Vielleicht wollte die herrschende Gruppe – zu der ein harter Kern dauerhafter Beamter, aber auch eine nicht geringe Fluktuation an den Rändern gehörte – vermeiden, dass sie zur Gruppe der Untertanen gerechnet wurde. In den Registern finden sich dazu viele sorgsame Vermerke im Stil von „er ist kein reaya, er ist im askeri-Dienst“. Aber der Drang scheint noch tiefer zu gehen. Die literarische und bürokratische Reife des Arvanid-Registers von 1431–32 und die praktisch identischen, aber Jahrzehnte jüngeren Register in Aydın und an anderen Orten deuten darauf hin, dass sie von einer kleinen Gruppe erfahrener Mitarbeiter zusammengestellt wurden, die eine einheitliche Ausbildung hatten, vermutlich unter strenger persönlicher Aufsicht standen und von einem starken Standesbewusstsein durchdrungen waren. Der Vergleich einiger persischer Begriffe und Ausdrücke mit erhaltenen ilchanidischen Verwaltungshandbüchern und -dokumenten legt nahe, dass die persische Zivilverwaltung (unter den mongolischen Ilchaniden und später unter der Dynastie Timurs) der frühere Arbeitgeber dieser Männer und für die osmanische Literatur ein bleibendes Vorbild war.80
Zwar brauchte Sultan Murad II. nach den Wirren und Gewalttaten im Zuge der Invasion Timurs und des Bürgerkriegs die Institutionen des osmanischen Palastapparats nicht komplett neu zu erfinden, wiederherstellen musste er sie aber doch. Bei den formellen Regierungsstrukturen, die in Funktion waren, als Murad 1451 starb, handelte es sich einerseits um Erweiterungen des eigenen wachsenden Haushalts des Sultans und andererseits um Aspekte seiner Dienstverhältnisse zu seinen Untergebenen. Als Hinweise auf diesen Wiederherstellungsprozess können die wechselnden Titel für Amtsträger gelten, die gelegentlich in den Annalen, den osmanischen Chroniken, zeitgenössischen griechischen Chroniken, wie denen von Dukas, und einigen wenigen amtlichen Schriftstücken auftauchen. Mitte des Jahrhunderts, wenn nicht sogar noch früher, wurde Murad mit dem Titel Padischah bezeichnet und nicht etwa als Sultan Murad Khan, und seine Söhne, vorher schlicht Bey, „Herr“, genannt, hießen nun Şehzade, Sohn des Herrschers. Als Jugendliche wurden sie mit Provinzkommandos in Anatolien betraut, zu denen sie von ihren Müttern und einem hochrangigen Ratgeber oder Mentor (Lala) begleitet wurden.
Der überspannte Bogen
Manchmal beschrieben die osmanischen Autoren Feldzüge so, als handelte es sich um mobile Vorführungen dieser Verwaltungs- und Organisationsstruktur. Doch ein genauer Blick auf die Annalen und Chroniken verrät ein geschärftes Bewusstsein für den menschlichen Faktor der Kriegführung, für die zugehörigen