Dieses viel zu laute Schweigen. Petra Bunte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Bunte
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783827184061
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aber wesentlich weniger intensiv, eher schon grau und glanzlos, statt so strahlend und funkelnd wie die von Lukas. Überhaupt wirkte er furchtbar blass und matt und war das genaue Gegenteil von diesem lebenslustigen Strahlemann, der normalerweise hier wohnte. Es musste sein älterer Bruder sein, von dem Lukas mir bei unserem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, wurde mir schlagartig klar, dass sich jeden Moment alle meine Befürchtungen bestätigen würden.

      Felix

      Bis Montagabend um elf hatte ich immer noch nichts von Lukas gehört und startete für diesen Tag einen letzten Versuch, ihn anzurufen. Für den Fall, dass er doch Spätschicht gearbeitet hatte, müsste er jetzt definitiv Feierabend haben. Aber es ging wieder nur die Bandansage ran. Verdammt! Hatte der Kerl sein Handy ausgeschaltet, oder was?

      Ärgerlich legte ich mein Smartphone zur Seite und beschloss, ins Bett zu gehen. So langsam konnte Lukas mich gerne haben.

      Als ich eine halbe Stunde später gerade eingeschlafen war, läutete es an der Haustür. Verwirrt schlug ich die Augen auf, warf einen Blick auf den Radiowecker und überlegte, wer zum Teufel um diese Zeit bei mir klingelte. Hauptsache, das waren nicht diese Jugendlichen, die bei uns in der Straße ständig Blödsinn machten.

      Im Nachhinein fragte ich mich, wieso ich nicht gleich auf das Offensichtliche gekommen war. Wenn es spät­abends an der Tür klingelte, bedeutete das doch nie etwas Gutes. Vor allem dann nicht, wenn man bereits den ganzen Tag vergeblich versucht hatte, seinen Bruder zu erreichen. Aber diese Verbindung hatte ich nicht gesehen und wurde von den beiden Polizeibeamten vor meiner Tür eiskalt erwischt.

      Sie wollten wissen, ob ich der Bruder von Lukas Engelhardt war. Sie fragten, ob sie einen Moment hereinkommen könnten. Sie erzählten etwas von einem Überfall und dass ich mit in die Klinik kommen sollte, um zu bestätigen, dass es sich bei dem Opfer um meinen Bruder handelte.

      In meinem Kopf herrschte schlagartig Chaos. Krankenhaus? Überfall? Lukas? Nein! Das musste ein Irrtum sein!

      Die nächsten anderthalb Stunden versanken in einem Nebel aus Hoffen und Bangen. Knapp hundert Kilometer waren definitiv zu weit für die Angst, die sich mit dem Auftauchen der Polizisten in meinem Bauch zusammengeballt hatte.

      Das kann nicht Lukas sein!, redete ich mir gut zu. Wer sollte ihm so etwas antun wollen? Das ist doch absurd. Aber ich schlage mir gerne die Nacht um die Ohren, um euch zu sagen, dass ihr euch vertan habt.

      Doch tief in meinem Inneren ahnte ich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Die Polizei würde nicht über die weite Strecke solchen Aufwand betreiben, wenn sie nicht einen guten Grund dafür hätte, oder?

      Oh, shit! Konnte mich bitte mal jemand wecken und aus diesem Albtraum erlösen?

      Aufgewühlt fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und griff nach meinem Handy, in dem naiven Glauben, dass dort unverhofft eine Nachricht von Lukas eingegangen sein könnte und dem Spuk ein Ende machte. Aber abgesehen von der Uhrzeit war das Display leer.

      Nach einem unübersichtlichen Gewirr von Gängen und Fahrstühlen stand ich schließlich mit schweißnassen Händen auf der Intensivstation. Wie ferngesteuert folgte ich einem Arzt in einen Raum, der vorne, rechts und links aus Glaswänden bestand, trat an das Bett heran und hätte meinen eigenen Bruder beinah nicht erkannt. Überall an ihm waren Kabel und Schläuche und führten in zahlreiche blinkende und piepende Maschinen, die fast die komplette vierte Wand einnahmen. Lukas‘ Gesicht war tiefrot und blau und geschwollen und eins der wenigen Körperteile, die nicht in einem Gips oder Verband steckten.

      Vollkommen schockiert starrte ich auf ihn herunter und brachte vor Entsetzen keinen Ton heraus. Erst als der Arzt mich zum wiederholten Mal fragte, ob das Lukas war, schaffte ich es zu nicken. Das kleine Muttermal an seiner linken Schläfe ließ keinen Zweifel daran. Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und musste mich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht in die Knie zu gehen.

      „Was ist mit ihm?“, würgte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. „Er wird doch wieder gesund, oder?“ Selbst in meinen Ohren klang die Frage nach einem verzweifelten Flehen. Und genau das war es, was ich fühlte: pure Verzweiflung.

      Der Arzt dagegen verzog keine Miene, als er mir etwas von zahlreichen Knochenbrüchen, inneren Verletzungen, Prellungen, Quetschungen und künstlichem Koma erzählte. Aber es gab wohl auch keinen Weg, jemandem schonend beizubringen, dass der Patient in Lebensgefahr schwebte und Glück hatte, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben.

      Mir war kotzübel von all den Informationen und der Angst, dass ich meinen Bruder verlieren könnte. Gleichzeitig kochte die Wut in mir hoch. Wer hatte ihm das verdammt noch mal angetan? Und warum überhaupt? Die Polizei tappte bei diesen Fragen völlig im Dunkeln und vermutete einen Raubüberfall, da Lukas kein Portemonnaie und Handy bei sich gehabt hatte, als er gefunden wurde. Hätte sich nicht ein Kollege auf dem Revier gemeldet, wüssten sie nicht einmal, wer er war.

      Völlig neben der Spur sank ich auf einen der Besucherstühle im Wartebereich vor der Intensivstation. Dort harrte ich die ganze Nacht und den folgenden Tag aus, bis die Schwestern mich nach Hause schickten, damit ich mich ausruhte und ein wenig schlief. Sie sagten, ich könnte sowieso nichts tun und sie würden mich sofort benachrichtigen, wenn sich an Lukas‘ Zustand etwas änderte.

      Ich glaubte kaum, dass ich auch nur ein Auge zukriegen würde, war aber mittlerweile so erschöpft, dass ich es zumindest versuchen musste. Also raffte ich mich auf und fuhr zu Lukas‘ Wohnung. Die Polizei hatte mir seinen Schlüssel überlassen, und zu mir nach Hause wäre ich jetzt eh nicht gefahren. Ich wollte auf jeden Fall in der Nähe meines Bruders bleiben und würde höchstens noch einmal zurückfahren, wenn ich unbedingt etwas aus meiner eigenen Wohnung brauchte. Bei der Arbeit hatte ich mich für den Rest der Woche abgemeldet, und weiter reichte mein Horizont momentan nicht. Im Gegenteil. Genau genommen konnte ich gar nicht mehr denken und war einfach froh über jede Stunde, die verging und in der Lukas überlebt hatte.

      Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir zugemacht hatte, blieb ich eine Weile reglos im Flur stehen und lauschte in diese unerträgliche Stille hinein. Lukas sollte jetzt hier sein und so etwas sagen wie: „Hey, Bruderherz, was stehst du denn so bedröppelt da rum? Komm rein und mach’s dir bequem. Hätte ich dich erwartet, hätte ich doch einen Kuchen gebacken.“

      Dabei wussten wir beide, dass er eine absolute Niete in der Küche war.

      Mit einem traurigen Lächeln legte ich den Schlüsselbund mit Lukas‘ geliebtem Hai-Anhänger auf die Kommode und ging langsam durch die Wohnung. Dafür, dass mein Bruder manchmal ein echter Chaot war, war es hier überraschend ordentlich. Seit seinem Umzug vor sechs Wochen war ich nicht mehr hier gewesen, und ich staunte, wie gemütlich er es sich gemacht hatte. Auf der Anrichte neben dem Fernseher standen ein paar Fotos, doch ich zwang mich, nicht hinzuschauen. Ich wusste, dass ich es jetzt nicht ertragen würde, ein Bild von unseren Eltern oder einem frech grinsenden Lukas zu sehen. Stattdessen ging ich weiter in die Küche, und wie aufs Stichwort fing mein Magen an zu knurren.

      Im Kühlschrank fand ich ein paar Eier, einen Rest Schinken und etwas Milch. Obwohl ich davon überzeugt war, keinen Bissen runterzukriegen, haute ich es zusammen in die Pfanne und machte mir ein Rührei.

      Nach dem Essen suchte ich mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und ging duschen. Zum Glück hatten Lukas und ich dieselbe Größe, sodass ich mir zunächst mit seinen Sachen weiterhelfen konnte.

      Anschließend rief ich meinen besten Freund Martin an, um ihm zu erzählen, was passiert war. Auch er war völlig erschüttert und bot mir sofort seine Hilfe an, wenn ich etwas benötigte oder Beistand brauchte. Es tat gut, mit ihm zu reden, aber wirklich helfen konnte er nicht. Das konnte niemand, denn momentan half bloß abwarten und beten, in der Hoffnung, dass es tatsächlich eine höhere Macht gab, die selbst die untreuesten Schäfchen in einer solchen Situation erhörte.

      Als Martin sich nach einigem „Kopf hoch“ und „Halt die Ohren steif“ verabschiedet hatte, nahm ich mein Smartphone vom Ohr und starrte nachdenklich auf das Display. Es waren nur zwei, drei Stichworte, die ich bei Google eingeben musste, um nachlesen zu können,