Dieses viel zu laute Schweigen. Petra Bunte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Bunte
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783827184061
Скачать книгу
sollte?

      Mitten in meine Überlegungen hinein klingelte es an der Tür. Ich zuckte erschrocken zusammen und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

      Bitte lass das nicht die Polizei mit schlechten Neuigkeiten aus der Klinik sein!

      Das war zwar totaler Blödsinn, jetzt wo das Krankenhaus meine Telefonnummer hatte, aber zum logischen Denken war ich gerade nicht in der Lage. Deshalb hatte ich auch keine Idee, wer sonst bei Lukas klingeln sollte. Eine seiner Liebhaberinnen jedenfalls nicht, denn so gut kannte ich meinen Bruder, dass er seine Eroberungen nie mit zu sich nach Hause nahm, um später keine Heulsusen vor seiner Tür stehen zu haben, die etwas missverstanden hatten.

      Zögernd ging ich in den Flur, kämpfte mit diesem Türöffner-Sprechapparat-Ding und drehte mich überrascht zur Tür um, als es leise dagegenklopfte.

      Draußen stand eine junge Frau, die mich einerseits ziemlich verschreckt anschaute, andererseits aber nicht so wirkte, als hätte sie mit Lukas gerechnet. Sie musterte mich schweigend, während in ihren Augen ein Kampf aus bitterer Erkenntnis und naivem Nicht-wahr­haben-wollen tobte. Diese Gefühlsregung kam mir bekannt vor. Allerdings fragte ich mich, was bei ihr der Grund dafür sein mochte, denn von Lukas‘ Zustand konnte sie kaum etwas wissen. Also, wer war sie und was wollte sie?

      „Hallo“, sagte ich, und es klang selbst in meinen Ohren eher wie eine Frage.

      „Hallo“, gab sie unsicher zurück. „Ich wollte eigentlich zu Lukas. Ist er da?“

      Ich sah sie an und spürte, dass sie die Antwort bereits kannte. Doch in ihrem Blick lag so ein flehendes Bitte-sag-ja, dass ich meine eigene Verzweiflung darüber fast vergaß.

      „Nein“, presste ich mit seltsam belegter Stimme heraus und fühlte mich wie ein Arschloch, weil ich ihre Hoffnung so gnadenlos zerstören musste. „Tut mir leid.“

      Die junge Frau senkte den Kopf und sackte dabei regelrecht in sich zusammen. Ich beobachtete sie einen Moment nachdenklich und war jetzt wirklich neugierig, wer sie war.

      Als ich sie danach fragte, stammelte sie hektisch: „Oh … ja … ähm, sorry. Ich bin Anna … von nebenan.“ Mit der Hand deutete sie rüber zu ihrer Wohnungstür.

      Ah, die Nachbarin. Lukas hatte mal von ihr erzählt. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die beiden besonders dicke miteinander gewesen wären. Jedenfalls nicht so, dass es ihr komisches Verhalten erklärt hätte.

      „Du bist sein Bruder, oder?“, fragte diese Anna, bevor mir selbst eingefallen war, was ich als Nächstes sagen sollte.

      Ich nickte schwach und antwortete: „Ja, Felix.“

      Anschließend breitete sich erneut Schweigen zwischen uns aus. Ich sah ihr an, dass ihr eine Frage auf der Zunge lag. Aber ich wollte sie nicht hören und schon gar nicht darauf antworten, denn wenn ich erst mal ausgesprochen hätte, was mit Lukas passiert war, dann wäre es plötzlich real und kein beschissener Albtraum mehr. Mit Martin darüber zu reden, war eine Sache. Aber warum sollte diese fremde Frau in einem solchen Traum auftauchen? Konnte sie nicht einfach wieder verschwinden? Ihr Nachbar war nicht da, Punkt, Ende der Durchsage. Wenn ich sie mir so anschaute, war ihr Lukas ohnehin wichtiger, als er sein sollte. Der typische Moment, bevor die armen Häschen erkannten, was für ein Weiberheld Lukas war, und sich Hoffnungen auf mehr machten. Andererseits … wieso hatte ich das Gefühl, dass sie mehr wusste, als sie eigentlich wissen konnte? Hatte mein Bruder in den letzten Wochen etwa eine wundersame Wandlung durchlebt und sich ausgerechnet von seiner Nachbarin bekehren lassen? Unter anderen Umständen hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut. Doch jetzt verkomplizierte es die Sache nur unnötig, denn ich wollte mich neben meiner eigenen Angst nicht auch noch mit ihrer auseinandersetzen. Aber ich konnte ihr ja schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen.

      Anna

      Es fühlte sich an wie ein Tanz auf rohen Eiern, den ich hier mit diesem Felix veranstaltete. Er schien mich so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen, ohne etwas erklären zu müssen. Ich dagegen würde nicht eher gehen, bevor ich nicht erfahren hatte, was mit Lukas war, auch wenn ich gleichzeitig furchtbare Angst davor hatte.

      „Ihm ist etwas passiert, oder?“, fragte ich leise.

      Felix schluckte schwer und sah so mitgenommen aus, dass es eigentlich Antwort genug war. „Luka ist im Krankenhaus“, erklärte er zögernd, und alleine dieses liebevoll weggelassene S am Namen seines Bruders machte deutlich, wie viel er ihm bedeutete. „Er … Es war wahrscheinlich ein Überfall, sagt die Polizei.“

      Nein! Nein, nein, nein! Bitte nicht!, schrie eine Stimme in mir, obwohl ich es die ganze Zeit geahnt, befürchtet, gewusst hatte.

      „Also doch“, flüsterte ich entsetzt, mehr zu mir selbst als zu ihm. Aber natürlich hatte er es gehört und schaute mich überrascht an.

      „Was heißt das, also doch?“

      Ich wich seinem intensiven, fragenden Blick aus und wurde plötzlich von meinen Schuldgefühlen erdrückt. Wie sollte ich Felix nur erklären, was ich alles wusste und vor allem, warum ich nichts getan hatte? Dass ich es vielleicht hätte verhindern können, aber stattdessen mein Bauchgefühl in die Ecke getreten hatte und mit meiner Freundin ein paar Cocktails trinken gegangen war? Das konnte ich nicht. Nicht, solange ich nicht wusste, wie es Lukas ging und ob das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hatte. Immerhin bestand weiterhin die Möglichkeit, dass es gar keine Verbindung zwischen dem Überfall und der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab. Mit einem voreiligen Geständnis würde ich Felix nur unnötig verrückt machen und er mich völlig umsonst hassen.

      „Ich habe davon gehört“, antwortete ich ausweichend und wagte es nicht, ihm dabei in die Augen zu gucken. „Eine Nachbarin hatte es erwähnt, direkt nachdem ich unten vor der Tür Lukas‘ Kollegen getroffen hatte. Er war auf der Suche nach ihm und …“ Ich geriet ins Stocken, sammelte mich kurz und erklärte weiter: „Wir haben zusammen versucht, im Internet mehr über den Überfall in Erfahrung zu bringen, weil wir beide seit Samstagabend nichts mehr von Lukas gehört und gesehen haben. Und die Personenbeschreibung passte dann genau auf ihn, deshalb … Ich hatte so ein komisches Gefühl, also ist Olli zur Polizei gegangen, um denen das zu melden. Und jetzt sagst du, dass es wirklich Lukas ist.“

      Meine Stimme versagte den Dienst, und mir liefen ein paar dicke Tränen über die Wangen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg, doch es kamen immer neue.

      Felix stand währenddessen vollkommen reglos vor mir und schwieg, starrte an mir vorbei ins Leere und hatte anscheinend seinen eigenen Film vor Augen. Erst als ich mich bewegte und überlegte, ob ich besser gehen sollte, reagierte er und sagte überraschend: „Willst du vielleicht mit reinkommen?“

      Unentschlossen schaute ich rüber zu meiner Wohnungstür, dann wieder zu ihm. Felix hielt meinen Blick fest, und ich meinte in seinem so etwas zu erkennen wie: Lass mich bitte nicht alleine!

      Ich bekam eine Gänsehaut und nickte schwach.

      Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat zögernd den Flur. Dabei fiel mir sofort der Schlüsselbund auf der Kommode ins Auge. Wie von selbst griff meine Hand nach dem hölzernen Hai und strich sanft mit dem Finger darüber.

      Ich spürte Felix‘ fragenden Blick auf mir und legte den Hai schnell zurück. „Tut mir leid“, erklärte ich beschämt. „Es ist nur … das ist so ein Insidergag zwischen Lukas und mir, weil er es nie schafft, seine Wohnung aufzuschließen, ohne mit dem Ding gegen die Tür zu poltern.“

      Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war so unendlich traurig, dass es mir das Herz brach.

      „Der Hai hat eine tiefere Bedeutung für ihn, oder?“, hakte ich vorsichtig nach.

      Felix nickte stumm. Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände, deshalb ließ ich es damit gut sein. Vielleicht würde ich eines Tages erfahren, was es mit dem Schlüsselanhänger auf sich hatte. Und wenn nicht, dann nicht. Jetzt hatten wir jedenfalls andere Sorgen.

      Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, das vom Grundriss genauso