„Aber …“, wollte ich protestieren, doch die Worte blieben mir auf halbem Weg im Hals stecken. Weil es genauso war, wie sie sagte, und das verursachte mir eine eisige Gänsehaut. Ich war auf die S-Bahn angewiesen, und zwar auf genau diese Haltestelle, denn die nächste war zu weit entfernt, um dorthin zu laufen. Was, wenn die Typen wirklich da auftauchten und sich an mich erinnerten? Andererseits … deshalb konnte ich doch nicht schon wieder nichts tun, oder?
„Was soll ich denn machen?“, flüsterte ich hilflos.
„Halt dich einfach da raus, Anna“, sagte Kathi eindringlich. „Bitte. Du kannst es eh nicht ungeschehen machen, und ich will nicht, dass dir auch etwas passiert.“
Sie klang ehrlich besorgt. Doch das war nicht alles, was ich aus ihren Worten heraushörte. „Das heißt, du glaubst auch, dass es die Typen von der Haltestelle waren?“, vergewisserte ich mich.
„Nein“, antwortete sie zögernd. „Ja … Ich … Ach, keine Ahnung. So was passiert doch sonst alles immer woanders oder im Fernsehen. Aber … Überleg dir einfach gut, was du tust, okay?“
„Hmhmm.“
Für einen Moment herrschte Schweigen im großen, weiten Handynetz.
„Anna?“, sagte Kathi dann leise.
„Hm?“
„Ich kann verstehen, dass dir das keine Ruhe lässt. Aber wenn du wirklich zur Polizei gehst, dann verschwinde wenigstens eine Weile von der Bildfläche, bis die Täter gefasst sind, okay? Kannst du nicht vielleicht ein paar Nächte bei Nele unterkommen?“
Ich stieß ein trauriges Lachen aus. „Die hat selbst kaum Platz, seit sich ihr Bruder bei ihr einquartiert hat.“
„Du kannst auch zu uns kommen“, schlug sie vor, doch wir wussten beide, wie unrealistisch das war. Von Kathis Zuhause aus würde ich locker doppelt so lange bis zur Arbeit brauchen. Außerdem hatte sie bereits genug um die Ohren mit dem kleinen Flo. Aber ihr Angebot rührte mich.
„Danke“, erwiderte ich. „Ich werde drüber nachdenken.“
„Du wirst schon das Richtige tun, Anni! Und meld dich, wenn was ist!“
Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns voneinander, und ich war wieder alleine mit der Frage, was ich jetzt tun sollte. Zur Polizei gehen oder nicht? Oder wenigstens mit Felix reden?
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und sah sofort wieder seinen ratlosen, mutlosen, hilflosen Blick vor mir. Diese Angst um seinen Bruder und eine Traurigkeit, die sehr viel tiefer ging. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihm mit diesem weiteren Vorfall den Rest gab. Aber ich musste, denn nur so würde die Tat möglicherweise aufgeklärt werden können und Felix wieder etwas zur Ruhe finden. Und Lukas … ihm war ich es ebenfalls schuldig, dass die Täter, die ihm das angetan hatten, ihre gerechte Strafe bekamen. Wurden diese Haltestellen nicht alle videoüberwacht? Dann müsste es doch ein Leichtes sein, die Pöbeltruppe darauf zu erkennen, oder? Ich musste der Polizei bloß den entscheidenden Hinweis geben, dann würden sie die Kerle schnappen, und ich musste keine Angst mehr vor ihnen haben.
Vorher wollte ich allerdings noch mit Nele telefonieren und hören, was sie dazu sagte. Außerdem musste ich Olli unbedingt Bescheid geben, was ich erfahren hatte.
Entschlossen wischte ich mir über die Augen, riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle ab und putzte mir die Nase. Anschließend brachte ich zuerst Olli auf den Stand der Dinge und rief dann meine Freundin an. Als Nele hörte, was los war, fackelte sie nicht lange und machte sich sofort auf den Weg zu mir. Keine zehn Minuten später saß sie neben mir auf dem Sofa, und ich erzählte ihr alles über Felix und Lukas, meine Ängste und Zweifel und das, was Kathi gesagt hatte.
„Scheiße“, brachte Nele die Sache sehr knapp, aber ziemlich treffend auf den Punkt. Sie runzelte die Stirn, brütete einen Moment still vor sich hin und erklärte dann, dass sie an meiner Stelle auf jeden Fall zur Polizei gehen würde. Und dass ich jederzeit bei ihr unterkommen könnte, wenn ich mich zu Hause nicht sicher fühlte. Ihren Bruder würde sie einfach rausschmeißen, der ginge ihr eh auf die Nerven. Sie klang dabei so selbstsicher und entschlossen, dass ich ihr am liebsten blind vertraut hätte. Aber in der Zwischenzeit hatten sich auch Kathis Bedenken so tief in mir verwurzelt, dass ich wie immer viel zu lange zögerte und Was-wäre-wenn-Gedanken wälzte.
„Ach, Anna-Maus“, seufzte Nele. „Was ist das alles für ein Mist. Also wenn du mich fragst, schlafen wir jetzt erst mal eine Nacht drüber, und morgen früh kannst du dann mit klarem Kopf entscheiden, was du tun willst, okay? Und sei es, dass du diesen Felix zum Frühstück einlädst und wenigstens mit ihm redest.“
„Hmhmm.“ Ich nickte und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum, als meine Freundin urplötzlich das Thema wechselte und fragte: „Sieht er eigentlich auch so unverschämt gut aus?“
Ungläubig riss ich den Kopf hoch und schaute sie fassungslos an. „Sag mal, geht’s noch?“
Die Frage war typisch Nele, doch als sie mich dabei frech angrinste, verzogen sich meine Mundwinkel wie von Geisterhand geführt nach oben. Sie hatte die faszinierende Gabe, selbst in der schlimmsten Situation ihren Humor zu behalten, ohne dass es sich falsch oder gefühllos anfühlte. Es war einfach ihre Art, und letztendlich war ich ihr jedes Mal dankbar, wenn sie es schaffte, mich damit aus dem Sumpf zu ziehen. Heute jedoch verpuffte die Wirkung sofort wieder.
Ich dachte an Felix, sah seinen verlorenen Blick vor mir und fragte mich, was er gerade machte. Ob er wenigstens ein bisschen schlafen konnte? Zu hören war jedenfalls nichts aus der Nachbarwohnung.
„Was glaubst du denn?“, antwortete ich mit einem Moment Verzögerung traurig. „Wie soll man schon aussehen, wenn einem die Nachricht, dass sein Bruder brutal überfallen wurde, den Boden unter den Füßen weggezogen hat? Genetisch sind sich die beiden vielleicht sehr ähnlich, aber ansonsten ist Felix gerade das genaue Gegenteil von einem Strahlemann.“
„Hmmm“, machte Nele. „Kann ich mir denken. Aber stell dir mal vor, eines Tages ist alles wieder gut und du hast plötzlich zwei solche Prachtexemplare vor dir stehen! Nicht, dass du dann Probleme kriegst, dich für einen von ihnen zu entscheiden.“
„Nele“, knurrte ich drohend. „Es reicht. Das ist jetzt echt nicht mehr komisch.“
Sie lachte und knuffte mich liebevoll in die Seite. „Ach, Süße. Du weißt doch, dass ich nur versuche, dich aufzumuntern. Es nützt ja nichts, in Trübsinn zu verfallen. Damit ist niemandem geholfen.“
„Ja, ich weiß“, gab ich widerwillig zurück.
Anschließend diskutierten wir darüber, ob Nele heute Nacht bei mir bleiben sollte oder nicht, und nachdem ich sie endlich überzeugt hatte, dass sie mich alleine lassen und nach Hause fahren konnte, umarmte sie mich fest und ging.
Als sie im Treppenhaus außer Sichtweite war, wanderte mein Blick wie von selbst rüber zur Nachbarwohnung. Unwillkürlich tauchte ein trauriges Paar blauer Augen vor mir auf. Und tatsächlich hatte ich in den letzten zwei Stunden fast genauso oft an Felix gedacht wie an Lukas. Aber bestimmt nicht so, wie Nele es vorhin gemeint hatte.
Kopfschüttelnd schloss ich die Tür und machte mich fertig fürs Bett. Doch an Schlaf war wie erwartet nicht zu denken. Mir gingen tausend Dinge durch den Kopf, während gleichzeitig Bilder von einem strahlenden Lukas und einem am Boden zerstörten Felix auf meiner inneren Leinwand auftauchten. Vergeblich versuchte ich, abzuschalten und endlich zur Ruhe zu finden, schaffte es aber nicht. Denn das, was mir am unerträglichsten und lautesten im Schädel herumhämmerte, war mein eigenes Schweigen.
Felix
Nachdem Anna gegangen war, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wohnungstür