Dieses viel zu laute Schweigen. Petra Bunte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Bunte
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783827184061
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die Situation war eine völlig andere, und Felix wirkte hier genauso fehl am Platz wie ich. Er deutete einladend aufs Sofa, blieb selbst jedoch stehen und schien nicht zu wissen, wohin mit sich und seiner Ruhelosigkeit. Meiner Meinung nach gehörte er ins Bett, so übernächtigt und erschöpft, wie er aussah. Aber ich konnte mir vorstellen, dass er in seiner Situation sowieso nicht schlafen konnte.

      „Erzählst du mir, was mit Lukas passiert ist?“, fragte ich leise, als Felix keinerlei Anstalten machte, von sich aus zu reden.

      „Frag lieber, was ihm nicht passiert ist“, antwortete er matt. „Luka ist von oben bis unten kaputt. Brüche, Prellungen, Quetschungen.“ Er hielt kurz inne, und mir entfuhr ein entsetztes: „Oh mein Gott“.

      Felix starrte geistesabwesend aus dem Fenster und fügte hinzu: „Der oder die Täter müssen ganze Arbeit geleistet haben. So viel Gewalt. Und das bloß für so ein paar Euro und ein Smartphone.“

      Ich zuckte innerlich zusammen. Nicht nur wegen der Verletzungen, sondern weil ich nach wie vor davon überzeugt war, dass es eben kein gewöhnlicher Raubüberfall war.

      „Ist denn schon sicher, dass nicht doch etwas anderes dahintersteckt?“, gab ich zögernd zu bedenken.

      „Was sollte das denn sein?“, meinte er wenig überzeugt. „Luka ist so ein Everybody’s darling, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Und da soll ausgerechnet er sich mit jemandem schlagen? Eher quatscht er den Gegner mit seinem Charme unter den Tisch.“

      Bei der Vorstellung musste ich beinahe lächeln, doch die Last meines schlechten Gewissens war stärker.

      „Und wenn er an einen Gegner geraten ist, bei dem das nicht gewirkt hat?“

      Felix drehte sich um und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick.

      „Ich meine ja nur“, erklärte ich schnell, bevor er auf die Idee kam, dass ich irgendetwas wissen könnte. „Olli hat zum Beispiel erwähnt, dass Lukas was mit einer Frau am Wickel hatte. Was, wenn da plötzlich ein eifersüchtiger Freund aufgetaucht ist? Oder er sich in etwas anderes eingemischt hat, was jemandem nicht gefallen hat?“

      Wie zum Beispiel die Belästigung einer jungen Frau durch vier ekelhafte Typen an der Bahnhaltestelle, dachte ich im Stillen, während eine leise Stimme in mir drängte, es auch auszusprechen.

      Doch sofort wurde sie von Felix übertönt, der sich stöhnend neben mir aufs Sofa fallen ließ und haareraufend sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich hoffe nur, dass wir es überhaupt jemals erfahren werden und der oder die Täter dafür verknackt werden. Aber bis jetzt hat die Polizei keinen einzigen Anhaltspunkt.“

      Er blickte wieder auf und starrte einen Moment geradewegs durch mich hindurch. „Das kann doch nicht sein, oder?“, überlegte er laut. „Da stehen ein paar große Wohnblocks drum herum, und keiner will etwas gehört oder gesehen haben? Wenn du mich fragst, haben die alle bloß weggeguckt, weil sie zu feige waren. Aber können sie dann nicht wenigstens jetzt eine Zeugenaussage machen?“

      Er war zum Ende hin immer lauter geworden, und jedes Wort fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Denn ohne es zu wissen, hatte er damit auch mich gemeint. Betroffen presste ich die Lippen aufeinander, hin- und hergerissen, ob ich ihm von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen sollte. Aber ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte sein Handy.

      Felix und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Angespannt schaute er auf das Display, nicht bereit, weitere schlechte Nachrichten zu empfangen. Aber offenbar kannte er den Anrufer oder die Anruferin und entspannte sich schlagartig. Er ging ran, versprach, dass er gleich zurückrufen würde, und legte sofort wieder auf.

      „Ein Freund“, sagte er knapp.

      Wir sahen uns an, und sein Blick brachte mich völlig aus der Fassung. Das Blau seiner Augen war bei genauerem Hinsehen doch intensiver, als ich gedacht hatte, und erinnerte mich viel zu sehr an Lukas. Allerdings an einen ernsthaften, niedergeschmetterten Lukas, den ich so nie kennengelernt hatte. Und die Vorstellung, dass sein Strahlen und Funkeln dem Überfall zum Opfer gefallen und für immer erloschen sein könnten, zerriss mir das Herz. Ich hatte das Gefühl, es keinen Moment länger in Felix‘ Gegenwart auszuhalten – und schaffte es gleichzeitig doch nicht, mich von ihm abzuwenden.

      Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir uns so angeschaut hatten, als Felix vollkommen unerwartet sagte: „Weiß Luka eigentlich, was er hier gerade verpasst?“

      Ich blinzelte verwirrt und konnte mir auf diese Frage keinen Reim machen. „Wie meinst du das?“

      „Was du für ihn fühlst“, erwiderte er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es mir die Sprache verschlug.

      Wieso glaubte eigentlich jeder, über mein Gefühlsleben Bescheid zu wissen? Jeder, außer demjenigen, den es betraf. Ich presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf.

      „Hätte mich auch gewundert“, meinte Felix.

      Stirnrunzelnd bemerkte ich: „Du sprichst gerne in Rätseln, oder?“

      Um seine Mundwinkel zuckte es, was mir eine klitzekleine Vorstellung davon verschaffte, dass auch der Ernsthaftere der beiden Brüder lächeln konnte.

      „Nein, eigentlich nicht“, erklärte er. „Aber Luka ist … Ach, egal. Ist jetzt nicht wichtig.“

      Natürlich machte er mich damit erst recht neugierig, doch ich hatte den leisen Verdacht, dass ich gar nicht wissen wollte, was Lukas seiner Meinung nach war.

      Für einen kurzen Moment schwiegen wir uns gedankenverloren an, dann sagte ich leise: „Tja, also … Dann will ich mal gehen, damit du telefonieren kannst.“

      Felix nickte, allerdings spürte ich ein leichtes Zögern dahinter. Unentschlossen stand ich auf, nahm meine Tasche und steuerte die Wohnungstür an. Draußen im Hausflur drehte ich mich noch einmal zu ihm um.

      „Wenn was ist, weißt du ja, wo du mich findest.“ Mit einem einladenden Lächeln deutete ich rüber zu meiner Wohnung.

      „Danke“, erwiderte er und sah dabei so verloren aus, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte.

      „Es wird bestimmt alles wieder gut“, versuchte ich ihn zu trösten, während ein kleines Teufelchen in mir empört erklärte: Was bist du doch für eine elende Heuchlerin!

      Schnell verabschiedete ich mich von Felix und flüchtete rüber in meine eigenen vier Wände, aus Angst, dass er mir die Gedanken an der Nasenspitze ablesen könnte.

      In der Stille und Einsamkeit meiner Wohnung bohrte sich die brutale Wahrheit schließlich ungehindert einen Weg in mein Bewusstsein: Lukas war wirklich dieser aufs Übelste zugerichtete, halb totgeprügelte junge Mann aus den Nachrichten. Und ich hätte es vielleicht verhindern können.

      Verzweifelt ließ ich mich auf einen Küchenstuhl fallen und griff nach meinem Handy, um Nele anzurufen, doch ich erreichte nur die Mailbox.

      Verdammt! Warum ging sie denn ausgerechnet jetzt nicht ran?!

      Ich musste unbedingt mit jemandem reden, und die Nächstbeste, die mir einfiel, war meine Schwester. Kathi hörte sich mein unzusammenhängendes Gestammel und Geschniefe an und machte keinen Hehl daraus, wie erschüttert sie war. Erst als ich darauf beharrte, dass es bestimmt einen Zusammenhang zu der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab, und erklärte, dass ich zur Polizei gehen musste, um eine Aussage deswegen zu machen, verfiel sie wieder in den Vernünftige-große-Schwester-Modus.

      „Bist du dir sicher?“, bemerkte sie zweifelnd. „Warte doch erst mal ab. Die Polizei wird schon …“

      „Worauf soll ich denn warten?“, unterbrach ich sie ungeduldig. „Die Polizei hat nichts. Gar nichts. Und wenn keiner etwas sagt, werden die Täter nie gefasst und lachen sich ins Fäustchen. Aber wenn erst einer den Anfang macht, und das kommt an die Öffentlichkeit, dann ziehen vielleicht andere nach und melden sich auch. Felix hat vollkommen recht. Da, wo es passiert ist, wohnen so viele Leute drum herum. Irgendjemand muss doch etwas davon mitbekommen haben.“

      Ich hörte Kathi tief durchatmen und