Dieses viel zu laute Schweigen. Petra Bunte. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Bunte
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783827184061
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Also atmete ich tief durch und konzentrierte mich wieder auf das eigentliche Problem, denn diese Aussage von seinem Kollegen erklärte trotzdem nicht, warum Lukas heute unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte.

      Ich zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich die Haustür von innen geöffnet wurde und die alte Frau Schulze mit ihrem Rollator herauskam.

      „Huch“, sagte sie, nachdem sie beinah in mich hineingelaufen wäre. „Entschuldigen Sie, Fräulein Anna. Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand vor der Tür steht.“ Sie blickte an mir vorbei zu Lukas‘ Kollegen. „Guten Tag, junger Mann.“

      „Guten Tag“, grüßte er höflich zurück, hielt ihr die Tür auf und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Frau Schulze rührte sich jedoch nicht von der Stelle und musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß. Wahrscheinlich hielt sie ihn für meinen Liebhaber, und der musste natürlich erst mal genauestens unter die Lupe genommen werden, bevor er hier im Haus ein und aus gehen durfte.

      „Frau Schulze, haben Sie Lukas Engelhardt heute zufällig schon gesehen?“, fragte ich schnell. Zum einen, um sie von irgendwelchen abwegigen Gedanken abzubringen. Zum anderen, weil der alten Frau selten entging, wenn jemand das Haus betrat oder verließ. In ihrer kleinen Erdgeschosswohnung hatte sie die beste Sicht auf den Eingangsbereich, und seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie leider kaum etwas anderes zu tun, als sich um das Leben ihrer Nachbarn zu kümmern.

      „Den Herrn Engelhardt?“, überlegte sie laut. „Nein. Schon länger nicht mehr. Warum fragen Sie?“

      „Nur so“, erwiderte ich ausweichend, um sie nicht zu beunruhigen. „Er hat anscheinend eine Verabredung vergessen, aber das kann ja mal vorkommen.“

      Frau Schulze wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und meinte: „Jaja, immer diese jungen Leute. Haben einfach zu viel um die Ohren heutzutage. Aber eins sag ich Ihnen, Fräulein Anna: Passen Sie immer gut auf sich auf. Es gibt viele böse Menschen da draußen. Dieser arme Mann, den sie da gerade erst gefunden haben. Fast totgeprügelt haben sie den.“

      Was?! Ich erstarrte innerlich, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Fast totgeprügelt? Wen? Wann? Wo? Schockiert sah ich zu Lukas‘ Kollegen rüber, dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte. Der blieb im Gegensatz zu mir gelassen, schien aber selbst bisher nichts davon gehört zu haben und wandte sich an Frau Schulze: „Was meinen Sie damit?“

      Die Alte blickte etwas ratlos zwischen uns hin und her. „Ja, hört ihr jungen Leute denn keine Nachrichten mehr? Das kommt doch seit gestern ständig durchs Radio. Sie haben gesagt, dass ein junger Mann überfallen und zusammengeschlagen wurde. Irgendwo in der Stadt … Aber wo war das auch noch … Ach, ich habe es leider vergessen.“

      Eine eisige Faust griff nach meinem Brustkorb und drückte immer weiter zu.

      Lukas!, war mein einziger Gedanke. Was, wenn es sich dabei um ihn handelte? Wenn die Pöbeltruppe ihm doch aufgelauert hatte, um sich an ihm zu rächen?

      Am liebsten hätte ich meine Nachbarin geschüttelt, damit sie mir sagte, wo dieser Überfall passiert war. Stattdessen kam dem kläglichen Rest meiner funktionsfähigen Hirnzellen eine andere Idee. Hektisch wühlte ich in meiner Tasche nach dem Handy und rief mit zitternden Fingern die Google-Suche auf. Währenddessen bekam ich gar nicht mehr mit, wie Lukas‘ Kollege sich weiter mit Frau Schulze unterhielt und sie schließlich ihrer Wege zog. Erst als er mich vorsichtig am Arm berührte, wurde mir bewusst, dass er mit mir redete.

      Wie erwachend blickte ich zu ihm auf und musste dabei einen ziemlich panischen Eindruck gemacht haben, denn er legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter. „Hey“, sagte er ruhig. „Jetzt mach dich nicht gleich verrückt. Das muss überhaupt nichts mit Lukas zu tun haben.“

      „Und wenn doch?“, stieß ich heiser hervor. Er wusste ja nichts von der Szene am Bahnsteig, sonst wäre er sicher auch nicht mehr so gelassen.

      Der junge Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Handy. „Hast du was gefunden?“

      Ich schaute zurück auf das Display und schüttelte frustriert den Kopf. „Nein. Bis jetzt bloß eine Überschrift, und wenn man weiterlesen will, muss man bezahlen.“

      „Beim Anzeiger?“, hakte er nach.

      „Ja.“

      „Ich hab da ein Abo“, sagte er und zog sein eigenes Handy aus der Tasche.

      Im selben Moment ging die Haustür ein weiteres Mal auf, und die fünfjährigen Zwillinge aus dem ersten Stock stürmten laut kreischend zwischen uns hindurch, gefolgt von ihrer gestressten Mutter. Auch das noch! Die Jungs waren bekannt dafür, dass sie einen in Grund und Boden quatschten, dabei lagen meine Nerven sowieso schon blank. Aber zum Glück schien es meine Nachbarin eilig zu haben, denn sie scheuchte ihre Söhne energisch weiter Richtung Auto.

      Nachdem sie weg waren, schlug ich Lukas‘ Kollegen vor, zu mir nach oben zu gehen, bevor wir erneut gestört wurden. Ich kannte ihn zwar überhaupt nicht, doch ich hatte jetzt andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob er möglicherweise ein Frauenschänder oder Serienmörder sein könnte. Und wie zum Beweis dafür, dass er es nicht war, hörte ich ihn auf dem Weg die Treppe rauf hinter mir sagen: „Ich bin übrigens Olli.“

      Wie von selbst verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. „Anna“, erwiderte ich, und auch wenn Nele mich dafür garantiert zur Schnecke machen würde, reichte mir das, um diesen Wildfremden mit in meine Wohnung zu nehmen.

      Schweigend gingen wir durch ins Wohnzimmer, wo Olli sich in seinen Account bei unserer Tageszeitung einloggte und ich gleichzeitig nach anderen, uneingeschränkten Artikeln suchte, aber nicht fand. Bis Olli mir sein Smartphone reichte, auf dessen Display mir der Artikel über den Überfall ins Auge sprang. Ängstlich nahm ich es entgegen und las den Text, während mir die eisige Faust immer weiter die Luft abdrückte.

      Von einem bisher nicht identifizierten jungen Mann war dort die Rede, der am frühen Sonntagmorgen mit lebensgefährlichen Verletzungen hinter ein paar Müllcon­tainern eines Wohnblocks in der Nähe des Berliner Platzes gefunden worden war. Es hieß, er sei möglicherweise das Opfer eines Raubüberfalls geworden, da er weder Handy noch Portemonnaie bei sich trug. Die Verletzungen stammten laut Aussage der behandelnden Ärzte von zahlreichen Schlägen und Tritten gegen den gesamten Körper. Es wurden Zeugen gesucht, die in der Nacht etwas Verdächtiges beobachtet hatten bzw. jemanden vermissten, auf den die Personenbeschreibung passte.

      „Oh mein Gott“, flüsterte ich fassungslos und las ein weiteres Mal die Angaben zum Aussehen des Opfers: Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, groß, blond, sportlicher Körperbau, blaue Jeans, dunkelblaues T-Shirt mit grauem Aufdruck auf der Brust.

      „Das alles passt genau auf Lukas. Und er war da, am Berliner Platz.“

      „Ja, das schon“, gab Olli zu bedenken. „Aber beides trifft auf zig andere Leute auch zu. Du hast keine Ahnung, was da beim Public Viewing los war. Und blaue Jeans und dunkelblaues Shirt sind keine außergewöhnlichen Klamotten.“

      Er wollte mich beruhigen, aber ich meinte in seiner Stimme ein leichtes Zögern zu hören. So viel Zufall konnte es außerdem gar nicht geben, dass Lukas ausgerechnet in dem Moment von der Bildfläche verschwand, in dem so ein schreckliches Verbrechen geschah. Schon für sich alleine klang das ziemlich unwahrscheinlich, geschweige denn, wenn man die Vorgeschichte kannte.

      Erzähl es ihm!, wisperte eine leise Stimme in mir. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst und Entsetzen und dachte immer wieder nur: Bitte, lass es nicht Lukas sein! Bitte, bitte, lass es nicht Lukas sein!

      „Anna?“

      Ich hob den Kopf und bemerkte Ollis fragenden Blick. Er spürte anscheinend, dass etwas in mir vorging, was über die bloße Sorge um einen Nachbarn hinausging.

      Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander und gab ihm schweigend sein Handy zurück. Dabei erstickte ich fast an all den ungesagten Worten, die mir in der Kehle steckten und rauswollten, aber nicht konnten. Nicht durften. Weil meine Befürchtungen dann Realität geworden wären. Vor meinem geistigen Auge sah