Als wir alle zur Arbeit gingen, blieb die sozial ungeschickte Cindy allein in der Zelle, da sie noch nicht arbeiten durfte. Die frisch gelieferten Strafgefangenen wurden erst nach einer ärztlichen Untersuchung zur Arbeit zugelassen. Als wir in die Zelle zurückkamen, sahen wir die junge Frau auf dem Boden in einer riesengroßen Blutlache liegen. Ich schrie lauter als alle anderen: „Hilfe!“ Da ich in meinem früheren Leben keine Gelegenheit gehabt hatte, solche Bilder zu sehen, war ich schlicht und einfach geschockt. Roxi und die Zigeunerin Gina standen herum und betrachteten interessiert den Körper am Boden. Sie versuchten, herauszufinden, ob Cindy tot oder noch am Leben war.
Krankenpfleger und Aufseher fassten sie unter den Armen und zogen sie schnell hinaus in den Gang, wo sie ihre aufgeschlitzten Arme mit Gummibändern abbanden. In der Hand hielt sie eine Rasierklinge. Sie hatte einen Rasierer auseinandergebaut und das scharfe Teil herausgeholt. Plötzlich kam sie zu sich und öffnete einen Spalt weit die Augen. Die Aufseher fragten sie laut und im Befehlston, wer ihr den Rasierer gegeben hatte. Sie zeigte mit dem Finger in meine Richtung und sagte, dass ich sie gezwungen hätte, das zu machen. Als Grund dafür hätte ich gesagt, dass sie auf meine Kosten von der Sozialhilfe lebte, dass ich für sie Steuern bezahlen würde, und so hätte ich das arme Mädchen beleidigt und erniedrigt.
Es ist wahr, dass ich tatsächlich keinen Respekt vor Menschen habe, die über zwei intakte Arme und Beine verfügen, aber auf Kosten anderer leben und dabei denken, sie wären die Klügsten. Vor allem, wenn sie dazu auch noch klauen, weil sie ja sonst zu wenig besitzen!
Die Zigeunerin trat stolz hervor und erklärte, dass der Rasierer ihr gehörte und die Verletzte mich aus Neid verleumdete. Cindy starrte die Zigeunerin streng und verächtlich an. „Du bist eine miese Schlampe, Kollegin!“
„Ich bin nicht deine Kollegin! Wir Zigeuner beklauen keine Armen, Alten und Behinderten, sondern helfen ihnen, wie wir nur können. Wir haben Ehre und Würde, die wir über Generationen von unseren toten Vorfahren überliefert bekommen.“
„Hahaha! Dass ich nicht lache! Ein ehrliches Kanakenweib. Du bist eine falsche Zigeunerfotze.“ Cindys Gesichtsausdruck wurde dabei trotzem bang und sogar ein wenig jämmerlich.
Dank Gina blieb mir die Isolierzelle erspart. Gott sei Dank! Auch meine Gefängnisstrafe wurde nicht aufgestockt, obwohl ich dicht davorstand. Zum ersten Mal im Leben war ich einer Diebin dankbar. Es war wirklich ein seltsames Gefühl. Ich versprach ihr sogar, sie in der Freiheit aufzusuchen und mich dankbar zu zeigen. Sie wohnte irgendwo in Bulgarien …
„Jana!“, rief Roxi mir zu. Ihre Zöpfe waren im Nacken festgesteckt. Sie zupfte mich an der Bluse.
„Was ist?“
„Wirst du weiter über mich schreiben?“
„Bis heute habe ich mich noch nicht von deiner Geschichte mit dem Elefanten erholt! Ich stelle mir vor, was für ein krasses Zeug da noch folgt!“
„Ich habe noch jede Menge lustiger Geschichten auf Lager.“
„Leg los!“
„Wo soll ich beginnen?“
„Mit deiner Kindheit. Dann weiß ich wenigstens, woher der Wind weht. Die Logik der Ereignisse, die dich hierhergebracht haben. Übrigens hat jede Nutte eine herzzerreißende Geschichte parat.“
„Na, das ist für die Kunden. Von dir kriege ich doch nichts, deshalb werde ich die Wahrheit sagen. In Wirklichkeit geht es mir gar nicht so schlecht. Aber im Zuchthaus klingt das natürlich irgendwie verloren.
Ich brauche von dir nichts, Jana. Ich will einfach irgendeine, wenn auch winzige, Spur für die Menschen hinterlassen.“
„Ein schwarzer Fleck soll es vielleicht werden, und nicht eine Spur. Und von Sünden wollen wir in diesem Buch natürlich schweigen, nicht wahr, mein Liebes? Da die ganze Story wohl aus ihnen besteht.“
„Du übertreibst mal wieder, Jana! Ich war übrigens eine der schönsten und prächtigsten Prostituierten!“
„Gut, so schreiben wir das jetzt auf! Nach Aussagen der geilsten Nutte namens Roxi, die jetzt Strafgefangene ist … – Fangen wir an!“
„Ich wurde in der Nähe der rumänischen Hauptstadt geboren. Das Städtchen hieß Lunguletu, ein gottverlassenes Nest, wo das einzig Schöne der Fluss Dâmbovița ist, der auch durch Bukarest fließt. In meinem Kaff geboren zu sein, könnte man mit dem ‚Glück‘ vergleichen, einen Geburtsort zu haben, der in etwa 95 Kilometer Entfernung von Moskau oder Kiew liegt. Weder Fisch noch Fleisch. Eine Einöde, Nirwana.
In meiner Kindheit war ich ein schönes Mädchen mit nudeldünnen Beinen, und mein glockenhelles Lachen wirkte auf alle um mich herum ansteckend. Es schien, als ob den Menschen gar nicht wichtig wäre, was ich da erzählte, weil die Zuhörer von vornherein darauf warteten, sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen. Mein einzigartiger Charme ließ mich keinen Augenblick im Stich. Meine geraden, weißen Zähne mit der neckischen Zahnlücke verliehen mir etwas Teuflisches, Freches.
Wenn ich mir im Laden Spielzeug aussuchen durfte, nahm ich Dreizacke, Teufel mit Feuer und Galgen und briet im Spiel meine neidischen Klassenkameradinnen. Meine Augen glitzerten feurig, eingerahmt von meinem langen, pechschwarzen Haar. Ich war ein süßes kleines Mädchen, aber eine wilde Energie brodelte in mir.
Wir waren zwei Kinder, ich hatte einen jüngeren Bruder, mit dem ich immer herumalberte, was meine Mutter wütend machte. Sie war eine machthungrige Frau, Sternzeichen Löwe, und forderte von uns bedingungslose Unterwerfung, die sie aber nur meinem Brüderchen abtrotzen konnte. Mich dagegen musste sie fast zu Tode prügeln.“
„Also da liegt der Hund begraben! Ist das dein Familientrauma?“
„Das weiß ich nicht, das musst du entscheiden. Hör weiter.
Die Mutter schlug mich mit allem, was sie gerade in der Hand hatte, um mich zum Gehorsam zu zwingen, aber im Endeffekt erreichte sie ihr Ziel nie. Es war nutzlos, gegen mich Gewalt anzuwenden. Ich hätte mich nur dann bei jemandem entschuldigen können, wenn man mich nachsichtig und unter Berücksichtigung meines Alters und meiner halbwüchsigen Aufmüpfigkeit behandelt hätte. Ich hasste meinen Bruder wegen seiner Charakterschwäche und Kriecherei. Meiner Meinung nach war er ein Feigling. Wenn uns ein familiärer Anschiss drohte, schob er nicht nur alles auf mich, sondern fiel auf die Knie, versteckte sich hinter meinem Rücken und flehte die eiserne Lady um Verzeihung an. Ich dagegen wurde gnadenlos geprügelt, bis unser Vater kam und der Mutter den Riemen oder den Stock wegnahm, die so aufgebracht war, dass sie mich bis aufs Blut schlagen konnte.
Sehr lange konnte ich dieser Frau nicht vergeben, nicht einmal heute kann ich sagen, dass ich verziehen habe, obwohl wir später, nach vielen Jahren, doch noch enge Freundinnen geworden sind. Aber damals war sie für mich ein Erzfeind, ein Monster, ein Unmensch. Ich hielt mich für das unglücklichste Mädchen auf der Welt.“
„Warum hast du dich dem Willen deiner Mutter nicht gebeugt?“
„Jana, weißt du, auch wenn viele Leute den Horoskopen nicht glauben, Jungfrauen können den Menschen nicht verzeihen. Sie fordern erhöhte Aufmerksamkeit, wenn sie die nicht bekommen, machen sie in allem das Gegenteil.“
„Ich weiß … so bin ich ja selbst. Ich vergesse keine Beleidigung und verzeihe keinen Verrat.“
„Deshalb schien es mir damals, dass mein Leben zu Hause keinen Sinn mehr hatte, dass ich nicht geliebt wurde und niemand mich brauchte.“
„Was sagte deine Mutter? Wie erklärte sie, dass sie