Dieses Gefängnis am Stadtrand von Stuttgart wurde dadurch berühmt, dass dort in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in einer speziellen Abteilung die führenden Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) untergebracht waren. Später wurden sie eines Morgens in ihren Einzelzellen tot aufgefunden.
Ich saß in einem riesengroßen, nassen, von menschlichem Leid durchtränkten steinernen Tunnel, wo an einem spinnenfadendünnen Kabel eine gelbe Lampe hing, und spürte in meinem Inneren nichts als Scham für meine Taten.
Ich war auch in einem Zuchthaus in einem Ort namens Rohrbach. Der Aufenthalt dort war zwar kein Zuckerschlecken, aber es ging ruhig zu wie in einem Hotel. Alles sauber, weiß gestrichen, akkurat aufgeräumt. Das Essen wurde wie in einem Restaurant auf einem verchromten Tischchen auf Rädern gebracht, die Teller mit dem Essen hatten Deckel, und zwar keine einfachen, sondern schöne, glänzende wie in einem teuren Restaurant mit Michelin-Sternen.
Die Frauen, die dort einsitzen, haben ziemlich lange Haftstrafen. Ich war von einer Person erstaunt, die unbedingt schwanger werden wollte, um vorzeitig entlassen zu werden. Sie kam auf die Idee, einen Tampon an eine Schnur zu binden und an der Wand hinunterzulassen, damit ihr Freund, der unten am Zaun stand, sein frisches Sperma daraufschmieren konnte. Den präparierten Tampon wollte sie in ihre Scheide einführen, in der Hoffnung, ein Kind zu empfangen.
Es gab dort auch eine Schauspielerin, ein ganz dickes Fräulein. Leider war sie an Hepatitis C erkrankt. Die Insassinnen wollten mit ihr nicht einmal Karten spielen. Als sie noch auf freiem Fuß war, trank sie so ungehemmt, dass sie glaubte, in ihrer Badewanne eine Leiche liegen zu sehen. Ich hätte nie gedacht, dass Alkohol solche Reaktionen hervorrufen könnte. Im Untersuchungsgefängnis saß sie mehrere Monate in einer Einzelzelle, weil sie einen Verkäufer in einem Supermarkt verstümmelt hatte. Man erzählte, sie wäre in den Supermarkt gegangen, um etwas zum Trinken zu holen, hätte aber kein Geld dabeigehabt. Sie hätte eine Flasche italienischen Wein aus dem Regal genommen und angefangen, sie gleich vor Ort zu öffnen. Ein Supermarktmitarbeiter wäre schnell angelaufen gekommen und hätte versucht, ihr den Wein wegzunehmen. Im Endeffekt, erklärte sie mir stolz, hätte sie es noch geschafft, einen Schluck aus der Flasche zu trinken, bevor sie die Flasche kaputtgeschlagen und dem geizigen Verkäufer den abgebrochenen Flaschenhals in die Kehle gestoßen hätte.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und sagte einfach: „Sehr gut gemacht.“
Meine Gefängnisforschungen gingen weiter. Nachmittags ging ich nach draußen, um Sport zu machen. Ich fing an zu boxen; falls Sie das kennen, es gibt eine Sportart namens Kick Power. Das ist Boxen ohne Hilfsmitteln, mit Schlägen in die Luft und Beinübungen.
Wie immer bildeten die Insassinnen einen Kreis und turnten meine Übungen nach. Plötzlich liefen die Aufseherinnen zu uns und befahlen mir, mit der Kampfausbildung für die Häftlinge aufzuhören. Angeblich provozierte ich damit Aggressionen. Ruft jahrelanges Sitzen in den Zellen ohne Bewegung etwa keine Aggression hervor? Ich hielt es trotzdem für besser, nicht zu streiten. Ich war ja auf dem Transport und blieb nirgends lange. Wozu dann unnötige Probleme? Ohnehin hatte ich schon ausreichend Sachen angestellt.
Die Reise dauerte noch eine Weile und unterwegs lernte ich eine Russin kennen. Das Aussehen dieser Frau verriet vieles über ihr bisheriges Leben: schöne lange Beine, üppiger Busen, aber im einst dichten Haar waren kahle Stellen zu sehen. Noch vor Kurzem war Julia zweifellos ein hübsches Mädchen gewesen, war aber dann leider zur Alkoholikerin und Diebin geworden. Sie hatte fündundzwanzig Jahre in Deutschland gewohnt, ohne auch nur ein einziges Dokument zu haben, das ihre Persönlichkeit bestätigen könnte. Sie machte den Eindruck einer schönen Vagabundin, einer Bordsteinschwalbe.
Meine Aufmerksamkeit erregte eine Spur ihrer schöpferischen Kraft, eines wahnsinnigen, unentdeckten Talents, die an ihr noch zu erkennen war. Sie konnte sehr schön malen.
„Warum schenkt der liebe Gott den Dummköpfen, den Verrückten, die ihr Leben bloß verscheißen, geniale Talente, mit denen sie nicht vernünftig umgehen können? Für sie ist das eine unnütze Last, ein Rucksack, den sie schleppen müssen, eine banale Zugabe zu ihrem geschrumpften Gehirn. Zum Glück hat Gott ihr nicht auch noch Kinder gegeben“, dachte ich.
Mit seinem eigenen Leben kann der Mensch machen, was er will, aber er darf keine unerfüllbaren Verpflichtungen übernehmen und nicht Schicksale von Unschuldigen zerstören …
Noch ein Gefängnis blieb mir in Erinnerung, nämlich das in Ravensburg, schon fast an der Schweizer Grenze. Das war mein vorletzter Bestimmungsort. Da gibt es nicht viel zu erzählen, es war ein Paradies auf Erden. Bei mir zu Hause ist es nicht so gemütlich wie dort. Alles war neu, die Zellen offen, die Küche riesig, man konnte Kuchen backen und auch sonst machen, was man wollte. Es gab ein Fitnessstudio mit allerlei Geräten, ein Raucherzimmer, einen Filmraum und eine Bibliothek. Ich bekam für eine Nacht einen neuen Pyjama und weiche Hausschuhe wie in einem Hotel. Die Gitter an den Fenstern waren einfach dicke Eisenstäbe ohne Querstangen. Solche Gitter sind in vielen Wohnhäusern, meistens im Keller oder Erdgeschoss zu sehen und sollen gegen Einbruch helfen. Das Gebüsch im Park ist gestutzt, man kann draußen spazieren gehen und Sport treiben. Die Aufseher sitzen zusammen mit den Häftlingen in der Küche, plaudern, helfen beim Kuchen backen und weisen dabei einen an Fanatismus grenzenden Eifer auf. Bis heute kann ich es kaum glauben. In meiner Seele war es so warm und gemütlich, dass mir ein unvorstellbarer Gedanke in den Sinn kam: „Ich will hierbleiben.“
Ich kam nach Ravensburg direkt aus Stammheim mit seinem unterirdischen Tunnel und den kahlköpfigen, zahnlosen Insassinnen, die monatelang kein Sonnenlicht sahen. Bei diesem Kontrast schien es mir, als wäre ich in einer anderen Dimension gelandet. Als wäre ich aus der Hölle des Mittelalters, wo man Prostituierte und Kosmonauten auf dem Scheiterhaufen verbrannte, direkt ins Tesla-Zeitalter gekommen. Früher dachte ich, dass es keine Zeitmaschinen gibt. Aber ich hatte mich leider geirrt …
Deutschland ist heiter und so vielfältig, dass ich manchmal nicht glaube, dass all die Städte, durch deren Gefängnisse – nicht durch die Hotels wie eine normale Touristin – ich meine extravagante Rundreise gemacht habe, in ein und demselben Staat liegen.
Grüezi, Schweiz!
Fast ein Monat ist vergangen, ich bin endlich fast zu Hause in der Schweiz und sitze ganz allein in einer Zelle mit vier Betten. Um genau zu sein, sind es zwei Betten, aber sie sind zweistöckig wie im Ferienlager. Davor habe ich fünf Tage in einer Einzelzelle verbracht. Das war brutal. Ich bekam Besuch von einem Pfarrer, der mich zu Tode erschreckte, als er die Dokumente der Staatsanwaltschaft einsah und mir mit einem Lächeln und in aller Form erklärte, dass mir, wenn ich nicht alle ausliefere, nicht die Namen der Teilnehmer und Organisatoren der illegalen Autorennen nenne, fünf Jahre strenger Haft in der Schweiz blühen. Anscheinend hatte die Staatsanwältin, diese fetten Sau, mir den Alten geschickt, damit er mir die Informationen entlocken sollte. Aber mir waren ihre taktischen Spiele schnurzegal, ich dachte an mein Buch, schrieb tagelang mit einem stumpfen Bleistift und legte mich schlafen, ohne die Jacke auszuziehen. Während des Verhörs bei der Staatsanwältin verübte ich einen kleinen Diebstahl: Ich klaute ihr einen Kugelschreiber, darum sieht mein Manuskript, falls Sie es zu sehen bekommen, wie ein Zebra aus. Die eine Hälfte der Seite ist mit Kugelschreiber, die andere Hälfte mit einfachem grauem Bleistift geschrieben. Wenn die Aufseher in die Zelle guckten, versteckte ich den Kugelschreiber in meinem Hosengummi und schrieb mit dem Bleistift. Allerdings ging die Tinte im Kugelschreiber bald aus,