„Warum hat er sich mit ihr überhaupt eingelassen?“
„Das ist die Sache – er liebte sie nicht weniger als sie ihn!“
„Und darum ist er fremdgegangen? Aus übergroßer Liebe? Eine seltsame Logik!“
„Das erscheint vielleicht seltsam, aber es war so. Er wollte sie verlassen, auf sie verzichten, oder besser gesagt, sich von dieser kriminellen Familie lösen. Er quälte sich selbst und die anderen, konnte sich aber nicht für irgendeinen ernsthaften Schritt entscheiden. Im Gegensatz zur Mehrheit der Menschen, die sich größer aufspielen, als sie in Wirklichkeit sind, verfiel mein Vater in eine Art umgekehrten Snobismus und prahlte mit seiner Deklassierung: Unaufhörlich betonte er seine einfache Herkunft und die Armut seiner Vorfahren. Auf keinen Fall wollte er sich als Bourgeois bezeichnen. Die Verwandten gingen ihm auf die Nerven, was er wiederum für unterbelichtete Ignoranz hielt, musste es aber dabei als existierende Realität hinnehmen. Sie brachten absurde Argumente vor, dass das Kind nicht von ihm wäre, und verleumdeten meine Mutter. So säten die Verwandten nach und nach die Zweifel und zerrissen ihm das Herz.“
„Der Einfluss der Familie ist tatsächlich ein sehr starkes Ding. Das ist klassischer Linksradikalismus, ich weiß es aus eigener Erfahrung. Sie können jeden von jedem trennen und Leute miteinander in Zwist bringen!“
„Jedenfalls wurde sie nach der Geburt des Kindes mit allerlei Anschuldigungen und Erniedrigungen überschüttet. Die junge Mutter hatte Angst, vor die Tür zu gehen. In dem Städtchen wohnten bei Weitem nicht nur freundliche Leute. Sie schrien ihr hinterher, sie wäre eine kriminelle Schlampe mit einer außerehelichen Tochter. Dabei beschützten die Brüder ihre Schwester und drohten den Eltern der Rotzbuben, die sie beleidigten.“
„Nicht nur freundliche Leute, sagst du? Welche Reaktion hättest du denn von seinen Eltern erwartet? Auf eine Braut aus einer Familie von Mördern und Gaunern?“
„Sollte sie etwa die Schuld ihrer Verwandten auf sich nehmen? Sie war in keinster Weise persönlich in die Verbrechen ihrer Angehörigen verwickelt.“
„Bei uns in Russland sagt man ohne Schuld schuldig. Das ist nichts Neues. Ich glaube, dass Rumänien da auch nicht weitergekommen ist. Obwohl ich die Rumänen eher mit den Ukrainern als mit den Russen vergleichen würde.“
„Das bestreite ich nicht, unsere Geschichte ist der ukrainischen irgendwie ähnlich. Und die Küche auch. Viele Salate werden mit Mayonnaise zubereitet.“
„Was glaubst du, wollte dein Vater deine Mutter wirklich auf so eine brutale Weise vergessen oder aus seinem Leben werfen?“
„Ich denke schon. Aber im Endeffekt trieb er sie zum Selbstmordversuch. Sie konnte ihre Depression nicht bewältigen, als eines Abends ihr Mann nicht nach Hause kam. Damals war ich gerade erst drei Monate alt. Meine Mutter trank eine ganze Flasche Bleichmittel auf ex. Als mein Vater die Wohnung betrat, fand er seine Frau blaugelb im Gesicht und vor Schmerzen gekrümmt auf dem Fußboden vor. Gott sei Dank, dass ihr Magen und Darm in diesem Moment noch nicht durchlöchert oder zerfressen waren. Es ist noch einmal gut ausgegangen. Nach diesem Vorfall hatte mein Vater aber vieles begriffen. Er begann, sich allmählich zu bessern, und wurde ein mehr oder weniger normaler Familienmensch. Besonders als mein Bruder auf die Welt kam, wurde es wesentlich leichter, eine gemeinsame Basis für die ideale Familienruhe zu finden.“
„Gut, dass es alles wieder gut geworden ist, oder?“
„Es war nicht gleich so, es dauerte einige Jahre, aber jetzt sind sie glücklich, wie es scheint. Meine Mutter ist nicht ruhiger geworden, sie passt bis heute auf ihn auf und ist eifersüchtig. Vor Kurzem hat sie auf seinem Handy den Briefwechsel mit ihrer besten Freundin aufgespürt. Es gab einen Skandal. Und zwar einen riesigen!“
„Alle Freundinnen sind Schlampen! Kaum lässt man sie ins Haus, schon fangen sie an, regelmäßig Besuche abzustatten, geschminkt, in schönen Kleidern, und wackeln vor dem fremden Ehemann mit dem Arsch! Diese Flittchen verdienen nichts Anderes als Hausverbot! Normale Freundinnen kommen ohne Make-up und Miniröcke. Und die Hündinnen, die ewig das nervenkitzelnde Abenteuer suchen, verbringen ihr halbes Leben auf der Jagd nach fremden Männern, aber im Endeffekt bringen ihre schlimmen Taten ihnen kein Glück.“
„Meine Mutter hat dieser Schlampe ordentlich den Kopf gewaschen. Jetzt wird sie uns nie mehr belästigen.“
„Warst du in deiner Heimat, bevor du ins Zuchthaus gekommen bist?“
„Ja, vor der Verhaftung habe ich ein Jahr zu Hause verbracht. Es war das erste Mal, seit ich vor vielen Jahren mein Elternhaus verlassen habe.“
„Hast du gewusst, dass man dich verhaften würde? Bist du deshalb nicht in die Schweiz gekommen?“
„Nein, ich musste die Trennung von meinem Geliebten verarbeiten. Aber ich bin froh, dass ich mich mit meiner Mutter endlich versöhnt habe. Sogar aus der Ferne hilft mir ihre seelische Wärme, das Gefängnis durchzustehen.“
„Hat sie sich bei dir für das unglückliche Schicksal entschuldigt, das dir zuteilgeworden ist?“
„Weißt du, sie hat gar nicht erwartet, dass ich mit Tränen in den Augen an ihrer Haustür erscheinen würde. Es waren die ersten Tränen, die sie im Gesicht ihrer Tochter gesehen hat. Sie hat sofort verstanden, dass sie mich ohne überflüssige Reden und Fragen unterstützen musste. Natürlich versuchte sie ein paar Monate später, den Schlüssel zu finden, und zwar die Worte, die mir in der Kindheit so sehr gefehlt haben. Endlich fing sie an, mich ausreden zu lassen. Nun sah sie in mir kein Stück Mist mehr, sondern einen halbwegs vollwertigen Menschen. In ihren Augen las ich Reue und Verzweiflung, aufbrausende Ausweglosigkeit und Demut. Es schien mir, als wäre sie erwachsen geworden.“
„Und dein Bruder?“
„Einen moralischen Krüppel wie ihn wirst du kaum noch einmal finden! Zwischen uns lief es gleich schief. Er erzählte meiner Mutter, dass ich als Prostituierte gearbeitet hätte, was ihr das Herz brach.“
„Wirklich? Das ist ungerecht der Familie gegenüber.“
„Er klaute das Geld aus meinem Koffer und kaufte sich Drogen. Dann schwor er auf den Knien, aber high wie immer, dass er nichts genommen hätte.“
„Komischer Typ.“
„Man darf das nicht sagen, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihn bis heute manchmal hasse! Und ich werde ihm nie verzeihen …“
„Wie war das, als du weggegangen bist? Und wohin?“
„Meine Mutter liest bis heute immer wieder den Brief, den ihre widerspenstige Tochter an dem Tag geschrieben hatte, als sie das Elternhaus für lange Jahre verließ. Es war qualvoll für meine Mutter, wie für jede Frau, die eine Tochter hat. Der Brief hatte folgenden Inhalt:
‚Liebe Mutti!
Von diesem Augenblick an wirst du mich nie mehr mich prügeln, erniedrigen und schikanieren können. Ich hasse dieses verdammte Haus, die Stadt und alle auf der Welt! Ich werde nie wieder in diese Hölle zurückkommen. Ich verlasse euch, weil ich fühle, dass ich euer Familienidyll störe. Erzieht euer geliebtes Söhnchen und seid glücklich.
Leb wohl für immer. Roxana.‘
Auf dem Brief sah meine Mutter die Spuren von Tränen ihrer Tochter, auf die sie einst so lange gewartet hatte. Aber nun blieb ihr nur noch, jahrelang das Papier zu streicheln und wie Pinselstriche auf einem verblassten Bild mit eigenen Tränen zu erneuern. Ihr Herz wurde zu einer großen, blutenden Wunde.
‚Mein Mädchen!‘, dachte sie. ‚Wie konnte ich das zulassen?‘“
Mit jedem Jahr wurde ihr Leid immer größer. Die Frau erinnerte sich an jeden Schlag ihrer Hand auf den zerbrechlichen, aber standhaften