Jetzt bin ich 27 Jahre alt und sitze hinter Gittern, da fällt es mir leichter, davon zu reden, dass ich ihre Handlungen verstehe und vielleicht verzeihen kann, sogar einen Teil meiner eigenen Schuld zu erkennen, aber damals war das leider nicht möglich.“
„Wie meinst du, woran sind Kinder in solchen Fällen schuld? An ihrem Ungehorsam? Wäre es nicht nötig gewesen, dass du deinen Charakter überwunden und dich wie dein Bruder hingekniet hättest, um der Dresche zu entgehen?“
„Ja, vielleicht. Aber woran ist sie schuld gewesen? Daran, dass sie sich richtige Kindererziehung eben so vorgestellt hat? Ja, ihre Methode, mit Kindern umzugehen, mag falsch sein, aber es war eben ihre persönliche Erziehungstheorie. Und wohin hat mich meine Unabhängigkeit gebracht? Wo sitzen wir jetzt? Etwa in einem Chalet in Alpen bei einem Glas Weißwein und einer Schweizer Käseplatte? Nein, in einer verrauchten Gefängniszelle! Und wir wissen nicht, welches Ende uns erwartet. Hast du gesehen, was mir der Staatsanwalt als Haftdauer in der Akte geschrieben hat? Ungefähr 20 Jahre. Sie werfen mir Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor.“
„Hör auf! Sie haben einfach alle Paragrafen aufgezählt, nach denen du angeklagt wirst, und das Ergebnis in deine Akte geschrieben. So eine Haft bekommst du nie im Leben. Du bist doch nicht Jack the Ripper.“
„Meinst du? Ich habe große Angst! Ich bin zum ersten Mal hinter Gittern und kenne mich schlecht mit den Gesetzen aus.“
„Ich verspreche es dir. Wobei ich allerdings auch zum ersten Mal im Knast bin. Aber überstürze nichts. Der Staatsanwalt versucht, dich einzuschüchtern und zum Reden zu bringen. Er will die Wahrheit herausfinden und dich verdonnern. Das ist seine Arbeit.“
„Ich bin am Boden zerstört. Ich glaube, dass ich in meinem Leben auf einer völlig falschen Spur war.“
„Ja klar! Bis zum Sex mit Elefanten zu sinken! Da musst du dir schon Mühe gegeben haben …“
„Meine Mutter hatte etwas zerrüttete Nerven wegen meines Vaters. Sie hat ihn mit 17 geheiratet, da war sie schon schwanger. Sie erwartete ihren Erstling, nämlich mich, als sich herausstellte, dass er schon längst eine Liebesaffäre mit einer Arbeitskollegin hatte. Sie spähte das süße Pärchen aus. Die beiden turtelten auf einer Bank im Zentralpark. Das gekonnt zerzauste Haar der Rivalin und ihr verlockender Blick ließen die Augen des Mannes leuchten und er lächelte wie ein Märzkater. Mit schwerem Bauch stand meine Mutter hinter einem Baum, beobachtete ihren Liebsten und die Tränen kullerten ihr über die Wangen. Sie hätte sich fast laut gefragt, wie sie, eines der schönsten Mädchen der Stadt, sich in dieses Arschloch verlieben konnte.“
„Na ja, das ist eine triviale Geschichte. Wir Frauen sind widerspenstige Masochistinnen, und die Männer sind nicht besser. Die Beziehung ist eine Art Sparring, in dem der verliert, der mehr liebt.“
„Meine Mutter hat ihrem Liebsten von dem Vorfall im Park nichts gesagt. So grenzenlos herrisch sie auch war, beherrschte sie wie kaum eine andere die Kunst der Geschlechterbeziehung und war eine gute Schauspielerin. Schade, aber wegen dieses Zwischenfalls verlief ihre Schwangerschaft kummervoll und stressig. Sie hatte eine Hormonstörung, Probleme mit der Schilddrüse und so weiter.
Ihr Mann kam einen Tag nach der Entbindung, betrunken und unrasiert ins Krankenhaus. Ohne seine Tochter nur eines Blickes zu würdigen, schleuderte er ihr den Blumenstrauß, der schon längst nicht mehr frisch war, vor die Füße, drehte sich um und lief wie gesengt aus der Geburtsklinik. Die arme Frau weinte bitterlich und schaute lange aus dem Fenster in der Hoffnung, die Gestalt ihres geliebten, betrunkenen Dummkopfes in der Ferne zu erblicken. Aber leider hielt der frischgebackene Vater es nicht für nötig, zurückzukommen. Er war ein waschechter Rumäne und wollte als Erstling einen Jungen haben. Eine Tochter war für ihn so etwas wie eine Beleidigung seiner Sippe. Deshalb blieb die Erziehung des Kindes völlig der Mutter überlassen.“
„Jetzt verstehe ich, warum dein Bruder mit allem davonkommen konnte.“
„Ja, er war ein lang ersehntes Wunschkind für beide Eltern. Für die Mutter verkörperte er den Familienfrieden, die Ruhe im Nest und die Rückkehr der Liebe ihres Mannes. Für den Vater war er sein ganzer Stolz! Und ich war ein Gegenstand von Misshelligkeiten und ein Paria. Manchmal gab mir meine Mutter Geld, damit ich zu Hause leise war. Je stiller ich mich verhielt, wenn ich weder hustete noch nieste, desto höher war meine Belohnung. Sie hatte sogar Angst, mich ihrem Mann zu zeigen. So hoffte sie, die Unannehmlichkeiten und unnötige Gespräche zu vermeiden. Ich fühlte mich wie ein unerwünschtes Geschöpf, das nur ein Grund für Missverständnisse und Sorgen war. Bis mein Bruder auf die Welt kam, ging der Vater fremd, darum ließ meine Mutter ihre Wut und Emotionen an mir aus. Ich merkte, dass sie mir die Schuld an ihrem schweren Schicksal gab.“
„Sie glaubte also, dass du sie unglücklich gemacht hast? Weil du nicht als Junge geboren wurdest?“
„Ja, irgendwie so sah die Situation aus.“
„Schrecklich! Warum sind die Eltern manchmal so dumm?“
„Weil sie jung und unerfahren sind.“
„Denkst du, ist es richtig, dass die Frauen lieber erst mit Anfang dreißig Kinder zu bekommen?“
„Ich denke schon. Als meine Mutter älter wurde, wurde auch ihre Gesellschaft für mich angenehmer und leichter zu ertragen. Sie war wirklich so unglücklich wegen der frühen Geburt, dass sie ab einem gewissen Punkt die Selbstkontrolle verlor. Sie hatte ja keine nennenswerte Hilfe, als sie das Kind bekam. Sie saß mit ihrem Baby am Fenster und wartete auf ihren untreuen Ehemann, während vor ihren Augen gutgelaunte Altersgenossinnen in Miniröcken in die Disco, ins Theater oder Kino gingen. Da bemerkte sie gar nicht, dass sie mich unwillkürlich zu hassen begann. Mein Vater sträubte sich ja bis zum letzten Moment, sie zu heiraten. Aber meine Mutter gab sich alle Mühe, um ihren Verlobten fest an sich zu binden. Mit Liebeszauber, Gebeten und Tränen flehte sie gleichzeitig Gott und den Teufel an, ihre Liebe zu retten und den Mann zu der unwiderruflichen Entscheidung zu bringen, sie zu heiraten. Seine vorbildlichen, wohlhabenden Verwandten waren strikt gegen diese Heirat, selbst die künftigen Enkel wollten sie nicht als Sippenangehörigen anerkennen. Sie hielten ihr Blut für schlecht und verdorben.“
„Woran lag diese Aggression seitens der Schwiegereltern? Stammte deine Mutter aus einer armen Familie?“
„Ihre Familie war nicht bloß arm, sondern regelrecht bettelarm, aber darum ging es nicht.“
„Sondern?“
„In unserer Familie gab es Mörder. Der leibliche Bruder meiner Mutter hatte den Sohn ihrer Kusine umgebracht, einen Säugling.“
„Oh Gott! Ein Kind? Warum das denn?“
„Die Eltern baten meinen Onkel, auf das Baby aufzupassen, höchstens für drei Stunden, weil die Eltern zu einem Konzert ihres Lieblingssängers gehen wollten. Als sie wieder nach Hause kamen, fanden sie das Kind leblos mitten im Zimmer, einen Meter von der Wiege entfernt. Der Onkel war vom Tatort geflohen.“
„Wie konnte das denn passieren?“
„Er war durchgedreht. Das medizinische Gutachten ergab, dass der kleine Petre starke Bauchschmerzen hatte, und anscheinend schrie er pausenlos. Der Mann warf ihn heftig auf den Boden und einige Sekunden später war es im Haus für immer still …“
„Weißt du, da schaudert es mich als Mutter geradezu vor Schrecken. Jetzt ist mir klar, woher deine Mutter ihre sadistischen Neigungen hatte. Das ist genetisch bedingt.“
„Ja, ganz richtig. Mütterlicherseits haben wir grundsätzlich nur Verbrecher in der Familie. Nach Petres tragischem Tod wurden noch drei leibliche Brüder meiner Mutter wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung verhaftet; sie hatten von kleinen Geschäftsleuten