Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ricarda Stöckel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783960081449
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diesen Mann denkt, den sie nach so vielen Jahren noch vermisst. Manchmal malt sie sich aus, wie sie ein gemeinsames harmonisches Alter erleben könnten, wenn damals nicht alles schief gelaufen wäre. Aber wäre sie dann überhaupt hier, hätte sie Enrico kennengelernt und die Idee für ihre Firma verwirklichen können? Was wäre, wenn damals die Weichen in eine andere Richtung gestellt worden wären? Sie weiß, dieses endlose Grübeln bekommt ihr nicht, aber manchmal kann sie sich nicht gegen die intensiven Erinnerungen wehren.

      Sie möchte sich auf ihren Geburtstag freuen, über ihre Freunde und Kollegen, ihre erfreuliche Gegenwart, in ihrem Alter ein nicht selbstverständliches und täglich kostbarer werdendes Geschenk. Doch gestern wurde sie unerwartet von der Vergangenheit eingeholt. Das hat sie so heftig getroffen, dass sie sogar den wöchentlichen Spielabend mit ihren Rommé-Freundinnen abgesagt hat.

      Sie betätigt am Display den Türöffner und Augenblicke später steht Sandra in der Tür. Neugierig lässt sie ihre Blicke schweifen, vom Massagesessel über die Couch mit dem schlichten, alten Couchtisch bis zu einem großen alten Schrank, in dem sich hinter einer Glasscheibe in vier Fächern Bücher drängen.

      »Schön haben Sie sich hier eingerichtet. Auf mich wirkt alles ein wenig altmodisch, aber anheimelnd. So ein Schrank voller Bücher ist toll. Ich habe nur wenige, die ich mal geschenkt bekam. Ich lese nur noch elektronische Bücher, wenn ich überhaupt dazu komme.«

      »Vergessen Sie nicht, ich bin alt und darf altmodisch sein«, entgegnet Jutta und erklärt, als sich Sandra schon ihrer Couch nähert: »Nein, wir bleiben bei dem schönen Wetter nicht hier im Zimmer. Ich zeige Ihnen die Fotos nicht am Bildschirm, sondern auf dem Balkon.« Jetzt wirkt die ganze dünne Frau wie ein einziges gekrümmtes Fragezeichen, denkt Jutta und amüsiert sich über Sandras Verwunderung. »Waaas, Sie haben noch echte Fotoalben und Papierbilder? Dokumente auf richtigem Papier! Das sind ja unschätzbar wertvolle Antiquitäten, die kaum noch jemand besitzt. Mein Opa hatte alles weggeworfen, bevor er umzog. Wochenlang hatte er seine Fotos eingescannt, und dann war seine Festplatte kaputt, als er mir Bilder von früher zeigen wollte.« Unbekümmert plaudert Sandra weiter: »Stur, wie alte Leute so sind, hat er keine Sicherheitskopien auf einer Cloud angelegt. Nein, das Internet war ihm zu unsicher für seine privaten Dokumente. Da konnte ich reden wie ein Buch, er hat mir nicht geglaubt, dass wir das alle so machen und die Daten auf diesen Wolken sicher sind. Das hoffe ich wenigstens. Durch die Datenskandale der letzten Jahre bin ich auch manchmal ins Zweifeln gekommen, aber eine andere Lösung kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

      Jutta muss lachen und fühlt, wie sie sich entspannt. Das Zusammensein mit der Jüngeren tut ihr gut. Sie wird nicht auf die Ärztin hören, sondern weiter aus ihrem Leben erzählen. Vielleicht ist das die beste Therapie für mich und hilft, die vergangenen Schatten noch vor meinem Jubiläum zu begraben, fährt ihr durch den Kopf.

      »Ich sehe das genauso wie Ihr Großvater. Auch ich speichere so wenig persönliche Daten wie möglich im Netz, aber ich vertraue auch nicht auf die ewige Haltbarkeit von elektronischen Datenträgern. Deshalb habe ich immer meine Papierfotos aufgehoben und gehütet wie einen Schatz. Auch Briefe auf altem Briefpapier und meine guten alten gedruckten Bücher habe ich bewahrt, jedenfalls die für mich wichtigen. Jahrhunderte alte Bücher blieben in den Bibliotheken der Welt erhalten und wurden in den letzten Jahrzehnten durch moderne Verfahren für die Zukunft konserviert. Kein Mensch kontrolliert, welches Buch ich wann lese, wenn ich es nicht auf elektronischem Weg kaufe. Bei den E-Books hatte das schon vor zwanzig Jahren erschreckende Ausmaße angenommen. Es reicht mir schon, in medizinischer Hinsicht und von meinen Einkaufs- und Essensgewohnheiten her inzwischen ein transparenter Mensch zu sein. Ich lebe damit, ohne ständig darüber nachzudenken, denn vieles nützt mir und meiner Gesundheit. Und natürlich, meine gesamte Service-Firma existiert nur dank solcher Computersysteme und Softwareentwicklungen auf der Grundlage einer Menge gespeicherter personenbezogener Daten. Also behalte ich wenigstens meine privaten Erinnerungen auf Papier.«

      »Aber wenn es mal brennt, ist alles weg«, wirft Sandra ein. »Das stimmt. Aber erstens verlasse ich mich auf das moderne automatische Brandschutz- und Brandbekämpfungssystem, das wir in allen Wohnungen installiert haben. Und wer sagt denn, dass ich nicht zusätzlich die wichtigsten Dokumente digitalisiert habe? Ich habe eine Firma mit modernster Technik, da verlasse ich mich nicht allein auf die Nostalgie – aber auch nicht ausschließlich auf die Elektronik.

      Wir sind in unserer Wohnanlage auf einem guten technischen Stand – auf dem neuesten kann man nie sagen bei der rasanten Entwicklung. In unserem Multimediasystem kann man selbstverständlich private Daten speichern. Hierher werden alle vom Nutzer ausgewählten Daten von sämtlichen mobilen Geräten gesendet.«

      »Und was passiert, wenn jemand auszieht oder plötzlich krank wird und stirbt? Kommt noch jemand an die Daten heran?«

      »Datenschutz ist ein Problem, seit es Computer und Internet gibt. Mit dem elektronischen Fingerabdruck und der Gesichtserkennung kann normalerweise nur der Besitzer seine Daten nutzen, während die öffentlichen und Netzwerkfunktionen für jeden zugänglich sind. Zusätzlich gibt es bei uns den im Finger implantierten Chip, auf dem alle in unserem System laufenden Arbeitsstunden- und Kontenbewegungen sowie die Gesundheitsdaten gespeichert sind. Dieser Chip wird nach der gesetzlichen Erbfolge vererbt, wenn jemand stirbt. Beim Auszug werden die Informationen auf dem Chip bereinigt, je nachdem, ob es eine andere Wohnung innerhalb unseres Systems ist oder ob sie woanders liegt. Die privaten Ordner werden bei der Wohnungsübergabe auf einem Speicherchip mitgegeben und dann im System gelöscht.«

      »Das ist ja interessant. Doch meistens gibt es für Fachleute Möglichkeiten, an gelöschte Daten heran zu kommen.«

      »Liebe Sandra, hundertprozentige Sicherheit hat es nie gegeben und gibt es nicht, so modern unsere Systeme sein mögen. Um auf die Fotos zurückzukommen: Nachdem in unserer Nachbarschaft vor vielen Jahren ein Laptop gestohlen wurde, auf dem sämtliche Geschäftsdaten und Privatfotos einer jungen Frau enthalten waren und sie keine Sicherheitskopie davon hatte, bin ich doppelt vorsichtig geworden.

      Ein guter Freund bewahrt für mich einen Datenträger auf, für den Fall der Fälle und vielleicht auch für meine Erben. Der wird aller paar Jahre erneuert, damit alles mit der jeweils aktuellen Technik les- und sichtbar ist. Aber noch besitze ich die einfachen Fotoalben. Die können wir uns jetzt ansehen ohne auf ein elektronisches Medium zu starren.«

      Mit einem »Pling« schaltet sich das Display von Juttas Telefon ein und schiebt eine Digitalfolie im A4-Format aus dem Gerät. Es erscheint eine Anzeige des Musikvereins der Wohnanlage: »Erinnerung. Heute Abend 19 Uhr im Festsaal des Restaurants »Notenschlüssel«: Nostalgie-Konzert mit echten Instrumenten und alter klassischer Musik. Orgel, Violine, Saxofon, Trompete, Flöte und Cello. Plätze für die Tische mit Abendessen und Getränken bitte bis 16 Uhr bestellen, ebenso für die Relax-Sessel ohne Abendessen, aber mit Getränk. Eintritt 30 Euro oder Service-Moneys. Wie immer steht die Videoübertragung in der Mediathek ab 22 Uhr kostenlos zur Verfügung.«

      »Super, das gibt’s doch gar nicht. Konzerte mit richtigen Instrumenten, live. Und sogar Orgel dabei«, ruft Sandra aus. »Darf ich mitkommen?«

      Irgendwie ist sie doch wie eine Klette, denkt Jutta, wenigstens abends möchte ich eigentlich abschalten. »Wieso interessiert Sie eigentlich die Orgel so?«, fragt sie.

      »Ich habe angefangen, Orgelbauerin als Beruf zu lernen. So wie Sie damals Schriftsetzer als alten Handwerksberuf. Aber bei mir ist alles schief gegangen. Meine Eltern besitzen heute noch eine der wenigen traditionellen Orgelwerkstätten, meistens reparieren und reinigen sie alte Instrumente, denn eine richtig neue Orgel leistet sich heute kaum noch jemand. Es gibt ganz wenig Vereine, die solche Traditionen noch pflegen. Auch in den meisten Kirchen stehen heute digitale Orgeln, die alten Orgelpfeifen dienen manchmal noch als Attrappe, doch meistens sind sie herausgerissen und eingeschmolzen worden, wenn sich dahinter Schmutz und Schimmel breit gemacht hatten. Es wurde immer schwieriger, das Geld für die Sanierung der Instrumente aufzutreiben. Oft wurde die Kirche als Institution mit ihren zahlreichen geldfressenden Kirchenbauten totgesagt, aber sie existiert immer noch, und die Orgelmusik auch.«

      Nun staunt Jutta über das Wissen der jungen Frau. »Es ist kein Wunder, dass Sie sich zu unserem Chef hingezogen fühlen, er hat sich sein Leben lang