»Müssen wir sie unbedingt hier haben? Hat sie keine Kinder, die sich um sie kümmern können?« hatte Johannes gefragt. »Nein, sie scheint ganz allein zu sein. Wir müssen eine Lösung finden. Wenn wir sie erst einmal emotional erreichen, lässt sich bestimmt noch viel für sie tun. Und bitte, Frau Lenz, veröffentlichen Sie diese Diskussion nicht. Wir unterliegen der Schweigepflicht bei persönlichen Details unserer Bewohner.«
Sandra hat ihr Minigerät sinken lassen, das Kamera, Computer und Telefon in einem ist, nicht mehr zu vergleichen mit den Smartphones, wie sie um 2010 aufgekommen waren. Das Gerät liegt bequem in der Hand wie eine Computermaus. Es ist stets aufnahme- und empfangsbereit. Das kleine Display vergrößert sich auf Knopfdruck, indem sich eine biegsame Folie entfaltet, auf der man Texte, Bilder oder auf Wunsch den jeweiligen Telefonpartner bequem erkennen und vergrößern kann. Seit sich diese Multimediageräte durch ihre hohe Qualität und die preisgünstige Anschaffung durchgesetzt haben, können freie Bildjournalisten kaum noch von ihrer Tätigkeit leben. Informationen, Berichte und Reportagen sind unverändert gefragt. Die Menschen benötigen Medien als Orientierungshilfe für die explosionsartig gewachsenen Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Doch diese multimedialen Leistungen erbringen immer weniger Personen, die Medialisten. Die meisten von ihnen arbeiten auf Honorarbasis, bis auf die Koordinatoren in den Zentralen. Diese stellen aus dem Material die bebilderten Artikel und Filme zusammen, die sie in die verschiedenen digitalen Kanäle leiten. Nach wie vor sind auch gedruckte Versionen der Informationen und Unterhaltungsbeiträge gefragt.
Sandra hatte noch einige Fragen gestellt und ihre Kamera über die Umgebung schwenken lassen. Doch Jutta war erschöpft gewesen und hatte sich nach ihrem Liegestuhl auf dem schattigen Balkon gesehnt. Außer Vogelgezwitscher wollte sie nichts mehr hören. Nicht einmal ihre nach dem organischen Lichtprinzip arbeitende Videobrille für einen Film reizte sie noch, sie wollte in die großen Baumwipfel schauen und ihre Gedanken ordnen. Sie war froh, dass die kleinen Jungs nicht auf dem Balkon über ihr zu hören waren, sondern sich offensichtlich noch auf dem Spielplatz austoben konnten. ServiceAktiv hatte der Familie neben dem Transportservice noch einen jungen Mann vermittelt, der verantwortungsbewusst solche Freiluftaktivitäten der temperamentvollen Jungen betreute und die Eltern stundenweise entlastete.
Doch dann hatte sich Enkelin Amelie aus Brea in Kalifornien am Telefon gemeldet. Lange hatte Jutta nichts von ihr gehört.
Jutta steht in der geöffneten Balkontür und atmet tief die kühlere, feuchte Luft ein. In der Nacht hat ein schweres Gewitter der Hitzeperiode ein vorläufiges Ende bereitet. Aber es wird schon wieder schwül.
Wie schön wäre es, wenn ihre Enkelin sie tatsächlich besuchen würde. Viele Gelegenheiten wird es nicht mehr geben. Als sie sich am Telefon meldete, hatte Jutta einen Augenblick gehofft, Amelie würde auf die Einladung reagieren und ihr Kommen ankündigen. Oder, noch eine geheime Hoffnung, sie würde Jutta zur Urgroßmutter machen. Doch die Neununddreißigjährige klagte über die mittleren und kleinen Katastrophen ihres Alltags, über ihren Mann Eduard und die extreme Trockenheit. Jutta hätte sie gern auf dem Bildschirm gesehen, aber die junge Frau hatte ihre Kamera ausgeschaltet mit dem Hinweis, sie hätte sich bei der Hitze nicht geschminkt und so wolle sie sich niemandem zeigen. Jutta weiß, dass die Enkelin unter Flugangst leidet, seit sie eine Beinah-Katastrophe bei der Landung eines Flugzeugs in Los Angeles erlebt hatte. Die Maschine war durch eine technische Panne über die Landebahn hinaus gerollt. Den Passagieren war nichts passiert. Dank des perfekt funktionierenden Notsicherungssystems konnten alle rechtzeitig evakuiert werden. Doch die Angst hatte sich in Amelie festgehakt.
Jutta hatte sehr darunter gelitten, dass sich das Mädchen schon mit zwanzig Jahren rigoros von seiner Mutter gelöst hatte und 2021 Hals über Kopf mit seinem zehn Jahre älteren amerikanischen Freund in dessen Heimat zog. Amelie hatte das Verhaltensmuster von Juttas Tochter Carola wiederholt, die mit achtzehn Jahren weg von Jutta mit ihrem Freund nach Frankfurt am Main gegangen war. Wie schon ihre Mutter hatte auch Amelie der Großmutter versichert, oft zu Besuch zu kommen, die Entfernungsei doch heutzutage kein Problem mehr. Die Praxis sah anders aus und seit der Flugpanne vor fünf Jahren hatten sich Großmutter und Enkelin nur am Bildschirm gesehen. Auch das wurde in letzter Zeit immer seltener. Jutta hatte der jungen Frau zu Weihnachten ein Seminar zur Überwindung der Flugangst geschenkt und sie zur Geburtstagsfeier am fünfzehnten Juli eingeladen. Amelie hat sich immer noch nicht geäußert, ob sie nach Leipzig fliegt. Ob es an Eduard liegt, den es kaum nach Deutschland zieht?
Die Stimme von ihrem Bildschirmwecker reißt Jutta aus den Grübeleien, die sie seit fünf Uhr am Morgen nicht mehr schlafen ließen. »Es ist 9.30 Uhr. In einer halben Stunde haben Sie einen Termin in Ihrer Firma ServiceAktiv.«
Im Büro sitzt Verwalterin Manuela Sommer mit Johannes Müller am Bildschirm, auf dem Grafiken und Zimmergrundrisse zu sehen sind. Johannes erklärt: »Wir haben jetzt alles geregelt. Die zwölf Pflegebedürftigen aus dem Park-Heim bekommen Unterkunft bei uns. Drei Umzüge beginnen heute, die anderen in den nächsten Tagen. Willst du sämtliche Neulinge selbst besuchen und die Reporterin mitnehmen? Das ist bestimmt interessant für sie.«
Jutta mustert ihren Vertreter und Nachfolger, mit dem sie seit zehn Jahren gut zusammen arbeitet. Wie immer stehen seine rötlichen Locken etwas wirr vom Kopf ab und er trägt eine zitronengelbe lange Hose zu einem grauen Baumwollshirt. Als »Mann mit der gelben Hose« ist er überall bekannt. Jutta kann sich nicht daran erinnern, ihn jemals in einer andersfarbigen Hose gesehen zu haben. Sie schmunzelt über die Marotte, doch die ist ihr gleichgültig. Was für sie zählt, ist die absolute Zuverlässigkeit und Kompetenz des jungen Informatikers. Selbst in den stressigsten Situationen hat er sich bisher nie aus der Ruhe bringen und zu Streitereien provozieren lassen. Sie wundert sich, dass der im Team beliebte Zweiunddreißigjährige bisher keine feste Partnerin hat. Dabei ist der vor zwanzig, dreißig Jahren normale Trend zum langen Singledasein bei vielen jungen Leuten heute größtenteils vorbei. Es gibt entgegen aller damaligen Prognosen wieder viel mehr frühzeitige Partnerschaften und Familien. Die sich ständig ändernden beruflichen Herausforderungen und oft damit verbundene Ortswechsel meistern sie durch Netzwerke und Hilfsangebote. Jutta ist stolz, dass ihre Firma Leistungen realisiert, die die Eltern entlasten und ihnen neben der Berufstätigkeit noch Freizeit ermöglichen.
Natürlich, Johannes hat recht, denkt Jutta: Wenn sie mit mir gemeinsam die Besuche erledigen würde, könnte Sandra am besten erleben, wie neue Bewohner mit dem Servicekonzept vertraut gemacht werden, wie wir sie in das Leben hier integrieren und aktivieren. Doch Juttas Bauchgefühl warnt sie. So sagt sie: »Nein, lass mich erst darüber nachdenken und in Ruhe die Namen und Biografien ansehen.«
Bevor sie einen Blick auf die Daten werfen kann, registriert sie, wie die blauen Augen von Johannes aufleuchten. Sandra Lenz steht in der Tür, ähnlich wie am Vortag gekleidet. Unter den durchsichtigen Pluderhosen trägt sie heute dunkelblaue Shorts und dazu passend eine blaue Kette aus dicken Holzperlen und blau-golden schimmernde riesige Ohrringe. Die Haare sind zu einem Pferdeschwanz mit einer großen blauen Schleife gebunden. Einen Schuhtick hat sie offensichtlich auch, denkt Jutta beim Blick auf die blauen, hochhackigen Schuhe aus einem glänzenden Material, das farblich perfekt zur Haarschleife passt.
Doch wie unwichtig sind Äußerlichkeiten. Jutta denkt daran, dass Sandra gestern viel länger als geplant mit ihr zusammen war und außer dem Eistee am Vormittag und einem großen stillen Wasser am Nachmittag nichts zu sich genommen hatte. Dass Juttas eigene Familie so viel Interesse an ihrem Leben und ihrem Engagement zeigen würde, erscheint ihr als unerfüllbarer Wunschtraum. Wie so oft taucht die Erinnerung an Carolas Worte auf: »Du hast mich weggetrieben, so wie du meinen Vater aus unserem Leben vergrault hast. Nun musst du damit leben, dass ich meinen eigenen Weg gehe, und nicht in Leipzig bei dir«!