Neuseenstadt 2040. Ricarda Stöckel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ricarda Stöckel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783960081449
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trotz vieler Missverständnisse niemals abreißen zu lassen. Wenigstens das ist ihr gelungen, nicht zuletzt durch ihre Besuche in Frankfurt und ihr Bemühen, der jungen Familie in dieser Zeit zu helfen. Während sich Jutta mit ihrem Schwiegersohn gut verstand, stritt sie sich mit ihrer Tochter immer wieder über Kleinigkeiten. Dadurch waren die Chancen zu guten Gesprächen vertan. Carola verstand die Mutter nicht, die mit sechzig Jahren ihre Firma aufzubauen begann. Mehrfach kritisierte die Tochter, dass Jutta ihre Kraft und Zeit für fremde Leute verschwende. Das Geschäft würde nicht genug abwerfen, sondern die Investitionen in die Firma das mühsam verdiente Geld gleich wieder verschlingen. In den ersten Jahren war das tatsächlich so und Jutta grübelte manche Nächte lang, ob ihre Tochter vielleicht doch recht hatte und sie selbst stur war und vergeblich einer Illusion nachjagte.

      Jutta bedauert, dass Carola sie so selten besucht hat. So konnte sich die Tochter kaum vorstellen, wie sich das Leben in Sommerlust entwickelte und durch die Service-Firma immer attraktiver wurde. Carolas Besuche waren meist kurz und überwiegend von ihren Shoppingtouren bestimmt. Jutta verstand nicht, dass jegliches Interesse an Politik bei Carola erloschen war. Dabei war die Politik 1989 der zweite große Konfliktherd in der Mutter-Tochter-Beziehung gewesen.

      Zu ihrem Kummer gelang es ihr auch nicht als Großmutter, eine gute Beziehung zu Enkelin Amelie aufzubauen, obwohl sie sich das sehr gewünscht hatte. Wie gern hätte sie die Kleine öfter zu Besuch gehabt, Zeit mit ihr verbracht und ihr die herrliche Wasserlandschaft gezeigt, die jedes Jahr mehr begeisterte Touristen anzog.

      Jutta versucht, sich wieder auf Sandra zu konzentrieren, und schaut zu ihr auf: »Heute zeige ich Ihnen eins unserer Restaurants und dort lade ich Sie zum Essen ein, ohne Widerrede. So einen Hungertag wie gestern verkrafte ich nicht noch einmal. In meinem Alter muss man vernünftig essen, um einigermaßen fit zu bleiben. Und Ihnen kann das auch nichts schaden. Außerdem gibt’s dort einiges zu zeigen, das zu unserer Arbeit gehört.«

      Jutta merkt, wie Sandra kurz zögert und zu Johannes schaut, bevor sie nickt. »Ja, natürlich. Sehen wir uns die Küche an. Und wenn ich etwas esse, erzählen Sie mir aus Ihrem Leben? Bitte. Ein paar Bilder von früher möchte ich auch gern sehen.«

      Jutta lacht: »Sie sind ja eine Erpresserin. Normalerweise trenne ich mein Privatleben von meinem gesellschaftlichen und erzähle Reportern nur über letzteres. Bisher waren alle damit zufrieden.«

      Sandra antwortet leise: »Viele Leute meiner Zunft sind oberflächlich. Aber ich möchte Sie gern richtig kennenlernen, bevor ich die Reportage schreibe. Für mich ist es sehr wichtig, dass mir dieser Beitrag gut gelingt. Es wird mein erster für ›Leben mit Ideen‹.«

      Jutta hat das Gefühl, dass sie ihr vertrauen kann. Irgendetwas zieht sie zu dieser jungen Frau. Warum soll sie nicht doch einmal ihr Leben erzählen und den angesammelten Ballast loswerden?

      »Gut, dafür brauchen wir aber viel Zeit. Und von Ihnen möchte ich auch mehr erfahren. Zum Beispiel bin ich neugierig, wieso Herr Sommer Sie gestern so mit seiner Orgel begeistern konnte. Dieses alte Instrument ist doch nichts für die meisten jungen Leute.«

      Sandra zuckt zusammen.

      Das Gewitter ist zurück gekommen und entlädt sich mit heftigem Krachen. Der Himmel hat sich verdunkelt. Automatisch schließen sich die Bürofenster und das Licht schaltet sich ein, eine angenehme blendfreie Beleuchtung von den Leuchtfolien an der Decke und an den Fenstern. »Oh, Sie sind hier mit organischen Leuchtdioden ausgestattet, dazu haben die Mittel für unser Redaktionsbüro bisher nicht gereicht«, stellt Sandra fest und setzt hinzu: »Was passiert, wenn der Strom ausfällt? Gibt es genug Reserven oder benötigen Sie das öffentliche Stromnetz?«

      Manuela und Jutta lachen. »Schauen Sie«, erklärt Manuela Sommer, »dort steht unser Energieturm, das Herzstück unserer Anlage. Sommerlust hat sich vor zehn Jahren vom zentralen Stromnetz unabhängig gemacht, als das große Braunkohlekraftwerk im Süden von Leipzig geschlossen wurde. Damals wurden die großen und kleinen Energiekonzerne zu einem zentralen, staatlichen Stromversorger zusammengeschlossen. Bis dahin war es nicht selbstverständlich gewesen, dass sich Gebäude, Wohngebiete und ganze Städte weitgehend unabhängig aus erneuerbaren Energien versorgen konnten. Die Stromkonzerne, die Stadtwerke und die vielen weiteren Stromanbieter konkurrierten miteinander um die Netze und die Kunden. Der künstlich erzeugte Wettbewerb brachte den Menschen keine Vorteile, sondern Ineffizienz und ständig steigende Energiekosten. Mein Mann war zu dieser Zeit in seinem Architekturbüro am Bau spektakulärer Bauten mit ganz neuen Energiemodellen beteiligt. Diese Erfahrungen setzte er beim Bau unseres Wohngebietes ein.

      Unser Energieturm entstand nach dem Vorbild des Pearl-River-Towers in China, der 2011 fertiggestellt worden war. Unserer hat keine neunundfünfzig Stockwerke, sondern nur zwanzig. Er enthält aber auch eine Fassade aus Fotovoltaikzellen, vertikale Windkraftanlagen und intelligente Stromspeichersysteme. Er ist ein Energie-Plus-Gebäude, das noch Strom für unsere Elektrotankstelle, für unsere Küchen und Wäschereien produziert. Dass wir in dem Turm auch Fische und Algen züchten, Pilze, Kräuter und Gemüse anbauen, ist nur ein Zusatznutzen. Aus den wuchernden Algen erzeugen wir Nahrungsmittel und Strom. Deshalb haben wir für dieses Hochhaus eine Ausnahme-Baugenehmigung erhalten. Ansonsten bauen wir hier Gebäude von höchstens fünf Stockwerken.

      Unsere Wohn- und Bürohäuser, die Schulen und das Krankenhaus sind Nullenergie- oder Plusenergiehäuser. Die älteren Häuser, die vor 2020 hier entstanden waren, wurden in den letzten Jahren auf diesen technischen Standard nachgerüstet und mit neuen Fassaden versehen.«

      Nach einem Blick zu Jutta unterbricht Manuela ihre Ausführungen: »Jetzt bin ich wieder ins Reden gekommen. Aber Sie wollen sich mit Frau Herbst über ServiveAktiv unterhalten, ich gehe schon.«

      Die künstliche Beleuchtung verblasst in dem Maß, wie es draußen heller wird. Das Gewitter zieht ab und der Regen hört auf. »Fenster auf«, sagt Johannes und die Scheiben schieben sich seitlich in die Mauerrahmen. Frische, nach nasser Wiese duftende Luft erfüllt den Raum.

      »Können wir das mit der Küche nicht morgen erledigen? Ich hab überhaupt keinen Hunger und mag jetzt auch nicht sehen, wie gekocht wird, vor allem kein Fleisch.« Jutta schaut erschrocken in das blasse Gesicht von Sandra. »Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie einen Arzt?«

      »Nein, nein. So ein Eistee wie gestern wäre perfekt. Können wir uns wieder dort unterhalten, wo wir gestern waren?«

      Die Frauen fahren mit einem kleinen, automatisch gesteuerten Elektroauto zur Seeterrasse und lassen sich unter dem Dach nieder, während von den Kastanienblättern das Wasser tropft. Heute esse ich etwas, und wenn die junge Dame hundert Mal hungrig daneben sitzt, denkt Jutta und fragt: »Wollen sie zuerst von meinem ersten oder von meinem zweiten Leben hören?«

      »Erzählen Sie mir bitte von Anfang an. Ich habe ausgerechnet, dass Sie schon fünfundsechzig Jahre alt waren, als ich geboren wurde. Wie soll ich verstehen, was Sie erlebt haben? Ich habe schon bei meinem Großvater Mühe zuzuhören, wenn er so durcheinander von seiner Jugend erzählt.«

      »Lebt er noch, Ihr Großvater?«

      »Oh ja, zum Glück ist er auch noch recht gesund. Er wohnt in Dresden und ich mag ihn sehr. Er versteht mich viel besser als meine Eltern. Nein, genug von meiner Familie, jetzt erzählen Sie!«

      »Sie haben ausgerechnet, dass ich 1950 geboren wurde. Mit meinen Eltern habe ich in Leipzig-Stötteritz gewohnt. Mein Vater war Schriftsetzer. Manchmal hat er mich in seine kleine Setzerei mitgenommen und mir gezeigt, wie die Zeilen aus einzelnen Bleibuchstaben in einem Winkelhaken zusammengesetzt wurden. Die Buchstaben sah man nur in Spiegelschrift. Das hat mich so fasziniert, dass ich den alten Handwerksberuf selbst gelernt habe. Bei uns in der DDR gab es zu der Zeit das Konzept, neben der zum Abitur führenden Oberschule in vier Jahren zusätzlich einen Facharbeiterberuf zu lernen. Wenn es dann, etwa wegen damals häufiger früher Mutterschaft, nicht mit dem geplanten Studium klappte, hatte man immerhin einen abgeschlossenen Beruf.

      Meine Mutter war Krankenschwester. Sie war sehr streng. Meine Tante Anita, ihre jüngere Schwester, fand ich als Kind viel lustiger. Eines Tages war sie in den Westen Deutschlands verschwunden, für mich auf Nimmerwiedersehen.«

      Sandra kaut auf dem leeren Löffel