Doch daran will sie jetzt nicht denken. Zum Glück schaltet sich Enrico Sommer auf den Bildschirm: »Hallo Jutta, hast du die Kamera deaktiviert? Ich kann dich nicht sehen. Deine Besucherin wartet schon bei mir.«
Wie immer genießt Jutta, die freundliche Stimme des Wohngebietsleiters zu hören, mit dem sie seit vielen Jahren zusammen arbeitet und befreundet ist. Mit ihm und seiner Frau Manuela hat sie eine Menge Lebensqualität für viele Menschen erzeugt, nicht zuletzt für sich selbst.
Jutta nimmt ein Ein-Personen-Elektrofahrzeug aus dem Fuhrparkraum im Erdgeschoss, nachdem sie es durch Anlegen ihres Fingerchips entsperrt hat. Sie findet es gut, dass im System der gemeinschaftlich genutzten Gegenstände Ordnung herrscht: Im Zentralcomputer der Wohnanlage wird gespeichert, wer wann was benutzt, wann etwas nicht in Ordnung ist und durch wen es kontrolliert und repariert wird.
Wenn die Journalistin nett ist, zeige ich ihr etwas mehr von unserer Siedlung, vielleicht setze ich mich mit ihr an den See, wo man es im Schatten gut aushalten kann, überlegt sie.
Den Grundstein für das Wohngebiet Sommerlust in Neuseenstadt am See in der Umgebung von Leipzig hatte der aus Hessen stammende Architekt Enrico Sommer im Jahr 2005 gelegt. Trotz anfänglicher Pannen und Fehlschläge hatte sich für ihn und seine Frau Manuela der Schritt in die Selbstständigkeit gelohnt. Enrico Sommer hatte kühne kreative Pläne verwirklichen können. Seit Jahren gilt diese Siedlung als beispielgebend für modernes, umweltschonendes, generationsübergreifendes, altersgerechtes und familienfreundliches Wohnen.
Zu dem Gebiet gehören heute Mehrfamilien- wie Einfamilienhäuser, ein Gesundheitszentrum, ein Krankenhaus und ein kleiner stationärer Pflegebereich, zwei Schulen, eine Kindertagesstätte, ein Sportzentrum, Restaurants, gemeinschaftliche und individuell genutzte Gärten, Parkanlagen, Gemeinschafts- und Freizeitanlagen, eine Bibliothek, ein kleineres Einkaufs- und Dienstleistungszentrum mit Parkhaus, ein Hotel und Gästehäuser, der Fuhrpark, verschiedene Werkstätten und kleine Firmen. Das Herzstück der Siedlung bildet Juttas Firma ServiceAktiv mit zwanzig Beschäftigten, die Dienstleistungen und Informationen koordinieren.
Alles ist auf ebenen Wegen gut zu erreichen. Es gibt mehr zu zeigen und zu erzählen als in ein Interview passt, zumal Journalisten unter notorischer Zeitknappheit leiden.
Als Jutta zum Bürohaus kommt, hört sie Orgelmusik durch das geöffnete Fenster. Eine Frau humpelt ihr entgegen. Manuela sollte doch etwas abnehmen, sie läuft immer schlechter, denkt Jutta. Sie überlegt, der Freundin den Gesundheitskurs zu empfehlen, von dem ihre Assistentin Beate Schultz seit Wochen begeistert erzählt. Besonders schwärmt ihre fünfzigjährige Mitarbeiterin von der lustigen Truppe, in der Frauen und Männer von zwanzig bis neunzig Jahren gemeinsam Sportübungen machen und über die neuesten Erkenntnisse gesunder Ernährung diskutieren. Ein Teil der Gruppe trifft sich regelmäßig zum gemeinsamen Kochen. Beate ist stolz darauf, dass sie bei so viel Spaß ganz nebenbei zehn Kilo Gewicht verloren hat. Gerade wir, die hier viele Angebote ins Leben gerufen haben, sollten die Vorteile selbst stärker nutzen.
Manuela unterbricht Juttas Gedanken: »Hallo Jutta, hörst du das? Ich kann es nicht fassen, der verrückte alte Kerl will die Kleine mit seinem Charme um den Finger wickeln! Mein Mann weiß genau, dass sie jetzt mit dir verabredet ist! Doch er setzt sich in aller Ruhe hin, um mit seinen Orgelkünsten zu glänzen!«
Jutta hasst Unpünktlichkeit und sie sieht die kostbare Zeit für das Interview verstreichen. Aber sie kennt ihren Freund Enrico, der oft spontanen Regungen folgt. Daran hat sich im Alter nichts geändert – so war auch die Feier zu seinem achtzigsten Geburtstag im März ein übermütig fröhliches Fest gewesen. Der Orgelnarr hatte die sonst in seinem Büro behütete digitale Konzertorgel in den Festsaal bringen lassen und unter der seit einigen Jahren installierten Leuchtdecke mit ziehenden Wolken eigene Stücke gespielt. Freunde seines langjährigen Orgelvereins in Leipzig, Orgelfreunde aus Lichtenstein, Chemnitz und Zwickau sowie befreundete Orgelliebhaber aus Enricos hessischer Heimatstadt Friedrichsdorf und aus Bad Homburg waren zu Gast gewesen und hatten dem Jubilar zu Ehren auf dessen Lieblingsinstrument gespielt.
Manuela, die im privaten wie im beruflichen Leben für geordnete Finanzen und Zeitplanung sorgt, wirkt aufgebracht. Man sieht ihr die siebenundsiebzig Jahre mehr an als Enrico die achtzig, denkt Jutta beim Blick auf das zerfurchte und gerötete Gesicht und die leicht gebückte Haltung der Freundin. »Manuela lass mal, ich gehe gleich hoch und nehme die junge Frau mit, reg dich nicht so auf. Ist etwas passiert?«
»Ja. Wir müssen dringend reden. Mein Pflegeheim, in dem ich früher gearbeitet habe, wird aufgelöst und das Gebäude abgerissen. Viele Bewohner haben sie nicht mehr, aber diejenigen sollen bei uns im Pflegebereich einen Platz bekommen. Wir müssen prüfen, ob wir einige Mitarbeiter hier mit einsetzen können. Die Leiterin würde gut zu uns passen. Vielleicht können wir sie als Nachfolgerin für Enrico einarbeiten – oder für mich. Die Jüngsten sind wir alle nicht mehr.«
Jutta steht langsam auf, nachdem sie unauffällig den Knopf für die elektronische Aufstehhilfe ihres Fahrzeugs genutzt hat.
Das alte Haus mit dem schönen Garten wird abgerissen. Dort hatte Enricos Mutter nach ihrem Schlaganfall bis zum Tod gelebt, nachdem er sie aus Friedrichsdorf bei Frankfurt am Main nach Leipzig geholt hatte. In diesem Pflegeheim hatte er seine Frau kennengelernt, die dort viele Jahre als Verwaltungschefin gearbeitet hatte. Jutta hatte erst durch die Erfahrungen ihrer Freunde realisiert, dass Pflege viel menschlicher funktionieren kann als in dem privaten und besonders teuren Pflegeheim, in dem ihre eigene Mutter die letzte traurige Lebenszeit verbringen musste.
Viele Jahre lang hatten die Mitarbeiter durch eine besonders herzliche Art und kreative Ideen das Leben für die Pflegebedürftigen so angenehm gestaltet, dass das Haus immer ausgebucht war. Durch die steigende Lebenserwartung und die Zunahme der Altersdemenz um die Jahrtausendwende wurden stationäre Pflegeplätze in großer Zahl benötigt und neu geschaffen. Doch in den letzten fünfzehn Jahren ist der Bedarf an Vollzeitpflegeplätzen rapide zurückgegangen. Neue Erkenntnisse, Ernährungsumstellungen und Medikamente können die Demenz verhindern oder spürbar abschwächen. Dafür ist die Nachfrage nach selbstständigem, altersgerechtem Wohnen mit individuellen Serviceleistungen gewachsen.
»Wir besprechen morgen, wen wir aufnehmen können. Wegen der Serviceleistungen könnt ihr Johannes ansprechen. Er vertritt mich so zuverlässig, dass ich ihm meinen Job bald anvertrauen werde.«
Jutta hofft, dass Manuela die leichte Wehmut in ihrer Stimme nicht spürt, doch die Freundin ist im Moment viel zu aufgeregt, um auf Nuancen in der Stimmung anderer zu achten.
Jutta fährt mit dem Aufzug in die erste Etage. Beim Öffnen der Tür zu Enricos geräumigem Büro schlägt ihr unangenehme Kühle von der Klimaanlage entgegen. Dass Männer kalte Räume mögen im Unterschied zu uns wärmebedürftigen Frauen, wird sich wohl nie ändern, denkt sie. Enrico hat sich von der Orgel umgewandt und Jutta hört die Begeisterung in seiner Stimme, die sie von Anfang an fasziniert hat: »Das finde ich toll, wenn Sie auch noch über unseren Orgelverein berichten wollen. Die Firma Ihrer Eltern ist hochinteressant – vielleicht können wir einen Kontakt herstellen. Jetzt kommt Ihre Gesprächspartnerin. Darf ich vorstellen: Sandra Lenz, Medialistin aus Leipzig, Jutta Herbst, Gründerin und Chefin von Service-Aktiv.«
Was ist mit ihren Eltern und einer Firma? Die Frage vergisst Jutta sofort, als sie ihre Interviewerin sieht. Wie läuft die Frau herum – ist das schon wieder eine neue Mode? Und so dünn, ob sie Essprobleme hat? Eine kurze durchsichtige Pluderhose, geschnitten wie in einem türkischen Harem vor zweihundert Jahren, darunter knallrote Minishorts. Die dünnen langen Beine staksen in seltsam geformten Pantoffeln und sind von oben bis unten mit buntem Muster bemalt wie ein Osterei. Dazu ein Oberteil, knallgelb, aus hauchdünnem Kunststoff, wie ein Babytragetuch umgewickelt. Die schwarzglänzenden Haare sind zu einem