»Sie haben sicher recht. Wenn ich daran denke, wie ich nach dem Streit wegen der dauernden Bevormundung die Brücken zu meinen Eltern abgebrochen hatte, dann war das auch ein ganz harter Brocken. Aber jetzt habe ich Sie unterbrochen, erzählen Sie von dem Klassentreffen.«
Jutta steht auf, streckt sich und füllt zwei Gläser mit Wasser aus der Leitung. Sie möchte Sandra nach dem Problem mit ihren Eltern fragen, doch vorerst muss sie sich auf ihren eigenen Erzählfaden konzentrieren. Sie schneidet eine frische Zitrone in Scheiben und fährt alles mit einem kleinen Servierwagen bis zum Balkontisch. Sie hat mit diesen kleinen Tätigkeiten ihre Aufregung ein wenig niedergekämpft. Vorsichtig lässt sie sich auf ihrem Stuhl mit dem dicken Kissen nieder und quetscht etwas Zitronensaft in ihr Wasserglas. Sie genießt die kühle, säuerliche Flüssigkeit in ihrem Mund, lehnt sich an und spricht weiter. Sandra beugt sich vor, um die leise Stimme zu verstehen.
»Das habe ich mir selbst gesagt, dass die kleine Sanitärfirma, in der ich gearbeitet habe, nicht durch meine Schuld Konkurs anmelden musste, sondern weil ihre Kunden die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnten und massenhaft Aufträge stornierten. In Leipzig hatte sich die Pleite eines bekannten Immobilienmanagers auf viele Bau- und Handwerksfirmen katastrophal ausgewirkt, wenn auch zum Teil mit Verzögerung. Er hat von den Banken riesige Kredite erhalten, mit denen er wichtige historische Gebäudekomplexe aufwändig saniert und etliche Wohnhäuser neu gebaut hat. Viele Leipziger waren ihm dafür dankbar, denn es ging sichtbar aufwärts mit der Rettung der verfallenen Stadt. Die Krux dabei war, dass sich alles als riesiges Lügengebäude entpuppte.
Ich hatte ab 1996 als Sekretärin, Buchhalterin und Mädchen für alles in der Sanitärfirma gearbeitet. 1995 hatte ich meine Marketing-Umschulung abgeschlossen und keine Stelle gefunden. Als ein Bekannter mir diesen Job anbot, griff ich zu, obwohl er unter meiner Qualifikation war und Schwierigkeiten programmiert waren, danach eine bessere Stelle zu bekommen.
Privat war alles schief gegangen, ich war ganz allein. Ich war geschieden und meine Tochter lebte bei ihrem Freund in Frankfurt am Main. Das Bild mit dem Kinderwagen in Karl-Marx-Stadt erzählt etwas anderes, das lag aber zu diesem Zeitpunkt weit zurück. Doch dazu später.«
Sandra seufzt und trinkt ihr Wasser aus. Gleich guckt sie auf die Uhr, ich sollte mich disziplinieren und zur Sache kommen, denkt Jutta.
»Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Zu diesem Klassentreffen sah ich meine frühere Freundin Ina wieder, das erste Mal seit der Flucht ihrer Familie in den Westen. Sie kam als Letzte, als wir alle in Gespräche vertieft waren. Ich unterhielt mich mit Klassenkameraden, denen es zum Teil nicht besser ging als mir, und fühlte mich wohl in der Runde. Dann trat Ina auf. Ihr Erscheinen verwandelte den Raum zur Showbühne und alle starrten hingerissen zu ihr: Eine elegante Frau mit fast Fünfzig, die sofort die Gespräche an sich riss. Ihre durchdringende Stimme ließ alle anderen verstummen. Hätte ich mich nicht gerade so gut mit meinem Klassenkameraden Bernd unterhalten und gehofft, das Gespräch bald fortsetzen zu können, wäre ich sicher schnell verschwunden. Doch um ehrlich zu sein, ich war auch fasziniert. Meine alte Freundin, wie hatte sie sich verändert, wie erfolgreich war sie geworden! Was hatte sie, was ich nicht einmal ansatzweise erreichen konnte? Obwohl sie fülliger war als ich, wirkte sie elegant in ihrem maßgeschneiderten dunkelblauen Kostüm. Ich brannte darauf, mehr aus ihrem Leben zu hören, doch sie präsentierte sich geschickt und mit vielen unterhaltsamen Details als erfolgreiche Marketingfrau. Von ihrem Privatleben erfuhren wir nichts. Plötzlich kam für mich die Überraschung: Sie sprach keineswegs von einer Firma in Stuttgart oder Hamburg, sondern sie lebte und arbeitete seit zwei Jahren in Leipzig. In einer mir unbekannten Firma GENIL hatte sie eine neue Marketingabteilung aufgebaut.«
»Wow, das ist ja super«, entfährt es Sandra und sie schlägt sich die Hand auf den Mund.
»Sandra, ich bin alt und inzwischen selbst erfolgreich. So fällt es mir nicht schwer zuzugeben, dass ich Ina an diesem Abend glühend beneidete. Obwohl ich beizeiten gehen wollte, saß ich am Ende noch mit dem harten Kern der Klasse dort und lauschte ihren Ausführungen. Bernd, mit dem ich mich eigentlich austauschen wollte, war längst nach Hause gegangen, als ich mir den Ruck zum Aufstehen gab. Ich hatte das Gefühl, als Einzige nüchtern zu sein, weil ich mir kein Getränk mehr leisten konnte. Ich dachte darüber nach, warum sich meine Freundin nie bei mir oder bei meiner Mutter, die noch im alten Haus wohnte, gemeldet hatte. Da sprach Ina die Sätze aus, die mein Schicksal veränderten: »Jutta, meine beste Freundin. Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen wegen dieser blöden Mauer. Erzähl doch mal von dir, ich lad dich zu einem Sekt ein. Nach so langer Zeit müssen wir unser Wiedersehen begießen.«
Sie bestellte eine ganze Flasche nur für uns beide, denn nun verschwanden die anderen auch. Offensichtlich war meine Freundin in der Klasse gar nicht so beliebt gewesen oder nach der Ausreise bei den meisten aus dem Gedächtnis verschwunden. Die Kellnerin zog ein griesgrämiges Gesicht, sie wollte Schluss machen, doch davon ließ sich Ina nicht beeindrucken. Und ich nach dem zweiten Glas auch nicht mehr. Plötzlich gab es wieder einen Gesprächsfaden, wir erinnerten uns an die Kindheit, lachten und mochten uns. Und dann bot sie mir in ihrer Marketingabteilung eine Stelle an. Ich zweifelte nicht an ihrer Redlichkeit. Sie war wieder meine Freundin, die mir half und der ich vertraute. Sie bestellte und bezahlte dann noch ein Taxi, das erst mich und dann sie nach Hause brachte.«
»Doch wo war der Haken? Das kann ja nicht ehrlich gewesen sein!“, ruft Sandra aus.
Jutta würde jetzt am liebsten Sandra einen Sekt spendieren. Aber nein, die junge Frau ist im Dienst, und der Alkohol mit Enrico und Manuela gestern war für Jutta und ihren hohen Blutdruck erst einmal genug.
»Es war ehrlich gemeint, das hat mich im nüchternen Zustand am nächsten Tag auch gewundert. Mit dem neuen Jahrtausend startete ich am ersten Januar 2000 in der Marketingabteilung der Firma GENIL im Zentrum von Leipzig. Mein Dienst fing in der Silvesternacht zur Schwelle des neuen Jahrtausends an, denn es waren wegen des Wechsels von 1999 zu 2000 Computerpannen, Stromausfälle und unerwartete Ereignisse befürchtet worden. Doch nichts Schlimmes passierte, alles funktionierte und in den Redaktionen langweilten sich die Journalisten, weil es keine Sensationen gab. Sie riefen ständig an und fragten nach, wobei sie nur beim Fernsehen störten.«
Sandra muss lachen und erzählt: »Ja von dieser verrückten Jahrtausendwende hat mein Opa auch berichtet. Er war Lehrer gewesen, fühlte sich zu Höherem berufen und schulte zum Betriebswirtschaftler um. In Frankfurt am Main machte er ein Praktikum und erlebte dort die Aufregung um die Jahrtausendwende so ähnlich. Er wollte noch einmal durchstarten und sich ablenken, denn er erlebte eine schlimme Zeit, wie ich es aus den Familienerzählungen weiß.«
»Sie erzählen mehr von Ihrem Großvater als von Ihren Eltern. Haben Sie eigentlich auch Geschwister?«
»Nein, ich bin ein verwöhntes Einzelkind«, Jutta vermisst die Fröhlichkeit in Sandras Lachen. »Ich hatte es sehr gut in meiner Kindheit. Aber am Ende war es auch das Problem, dass ich immerzu den Erwartungen meiner Eltern entsprechen sollte. Sie sind mit dieser Orgelbauwerkstatt verheiratet. Dass ich Orgelbauerin lernen und die Firma übernehmen sollte, stand von Anfang an fest, auch für mich. Ich stellte das nie in Frage und begann die Ausbildung. Aber bitte, fragen Sie jetzt nicht, warum ich sie abgebrochen habe und nur noch weg wollte. Ich erzähle es Ihnen ein anderes Mal. Bitte sprechen Sie von sich, das ist jetzt viel wichtiger.«
Jutta denkt über das eben Gehörte nach. Enrico möchte eine öffentliche Exkursion zur Besichtigung der Werkstatt von Sandras Eltern anbieten und zur Vorbereitung mit Jutta, Johannes und der Reporterin dorthin fahren. Ob das eine gute Idee ist? Sie möchte Klarheit schaffen, doch die junge Frau hat gerade ihr Telefon auf »Aufnahme« gestellt und schaut Jutta erwartungsvoll an.
»Ich bin jetzt ganz aus dem Konzept gekommen. Was machen Sie am Wochenende, wenn wir uns nicht sehen?«
»Keine Ahnung, am liebsten würde ich herkommen und mich weiter