Noch einmal fällt der Name Ina Maiwald – es gibt keinen Zweifel mehr. Jutta fällt der alte Spruch ein, der bei Abschieden dahingesagt wurde: »Man trifft sich immer zweimal im Leben.« Doch jetzt würde sie der dritten Begegnung mit ihrer früheren Freundin nicht mehr ausweichen können. In ihrem Magen rumort der Fisch, als würde er wieder hinausschwimmen wollen. Dann wird ihr schwarz vor den Augen.
Johannes springt hoch, stützt seine Chefin und führt sie hinaus. Leise sagt Jutta zu Sandra: »Wir sehen uns morgen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich in unserem Büro umsehen. Ich kann nicht mehr. Verzeihen Sie einer alten Frau.« Johannes ruft Felix, den derzeitigen Praktikanten: »Bitte bringen sie Frau Herbst bis in ihre Wohnung, ich bestelle ihre Ärztin dorthin.« Jutta setzt sich in den Vorraum und versucht tief zu atmen, während Felix einen Rollstuhl holt. Sandra hat das Büro betreten und Jutta hört mit ihrem guten Gehör die leise Stimme ihres Vertreters: »Wir machen uns Sorgen. Sie regt sich im Moment sehr auf. Dabei bereiten wir doch ihr Jubiläum vor. Wir haben uns eine tolle Überraschung ausgedacht. Sie war bis jetzt fit, sie soll nicht schlapp machen!«
»Wer ist eigentlich Ina Maiwald?« hört sie Sandra fragen. »Die Frau ist aus einem Pflegeheim hierhergekommen, krank und vor allem stur, abweisend, psychisch gestört. Unsere Chefin scheint sie von früher zu kennen. Keine Ahnung, woher.«
»Eigentlich wollte ich mit ihr heute zu dem Konzert gehen. Doch jetzt ist sie so durch den Wind, dass ich sie nicht noch einmal fragen möchte.«
»Kein Problem – gehen Sie einfach mit mir. Ich melde schnell die Plätze an.«
Jutta muss lächeln und merkt, wie sich Atmung und Puls wieder normalisieren. Was soll sie mit der Ärztin anfangen? Sie weiß selbst am besten, worüber sie sich aufregt. Ins Bett lässt sie sich nicht stecken, sie möchte zu dem Konzert gehen. Ein Konzert mit echten Musikern und Instrumenten ist eine besondere Rarität geworden. Sparmaßnahmen einerseits und technische Möglichkeiten andererseits hatten in den vergangenen zehn Jahren zu einem kulturellen Massensterben geführt. Gute Schauspiele, Opern und Orchesterkonzerte werden in wenigen Konzertsälen und Opernhäusern der Welt aufgezeichnet und dann mit riesigen Gewinnen einem zahlungskräftigen Publikum zugänglich gemacht. Um das Jahr 2010 begannen digitale Live-Übertragungen der Metropolitan-Oper aus New York in die großen und gut ausgestatteten Kinos vieler Länder. Die Entwicklung setzte sich fort mit immer raffinierterer Drei- und Vier-D-Technik. Kleinere Theater und Konzerthäuser wurden geschlossen, dafür kamen die digitalen Konzerte zunehmend in Mode, so dass die Preise dafür gewaltig anstiegen. Inzwischen gehört es zu ausgesprochenen Luxuserlebnissen, eine Oper oder ein Konzert direkt zu besuchen. Eines der wenigen in Deutschland erhaltenen Konzerthäuser ist das Leipziger Gewandhaus. Zur DDR-Zeit hatte Jutta dort ein preisgünstiges Anrecht, später noch einmal 2016, als ihre Firma recht gut zu laufen begann. Doch als sie 2017 als Ersatzoma für den zweijährigen Detlef einsprang und häufig auch kurzfristig abends gebraucht wurde, kündigte sie. Es war damals schon so teuer, dass der Verlust eines bereits bezahlten Konzertes Jutta weh tat.
Heute kostet ein Ticket für das Gewandhausorchester so viel, wie ein Arzt durchschnittlich in zwei Monaten verdient. Doch die Plätze sind weltweit gefragt und für lange Zeit im Voraus ausgebucht. Vor allem Chinesen und Amerikaner der begüterten Oberschicht leisten sich Reisen nach Europa und nutzen die attraktiven kulturellen Angebote. Jutta liebt und genießt die digitalen Klang- und Seh-Erlebnisse, doch sie wünscht sich noch einmal in ihrem Leben ein richtiges klassisches Konzert mit voller Orchesterbesetzung in der besonderen Atmosphäre des Gewandhauses erleben zu dürfen. Am liebsten von der Orchesterempore aus, von der die Zuschauer dem Dirigenten ins Gesicht und die Musiker ganz nah sehen. Sie lächelt in sich hinein über ihre hochfliegenden Fantasien und freut sich auf das kleine Konzert im Festsaal ihrer Wohnanlage.
4. KAPITEL – FREITAG, 29. JUNI 2040
Pünktlich um zehn steht Sandra vor Juttas Wohnungstür. Jutta war ungewöhnlich spät nach Mitternacht ins Bett gegangen, aber nach der bejubelten Veranstaltung und dem angenehmen Gespräch mit Enrico und Manuela, bei dem die drei alten Leute zwei Flaschen Rotwein genossen hatten, konnte sie tief und ungestört schlafen. Der Blutdruck ist fast ideal und sie fühlt sich ausgeruht. Sie begrüßt die Reporterin: »Haben Sie Lust, einen Einkaufsbummel mit mir zu machen? Sie kaufen bestimmt auch fast nur online ein? Heute fährt unser Einkaufsbus zu einem Supermarkt.« Sandra staunt: »Was denn, ein richtiger großer Lebensmittelmarkt, wie es sie früher an jeder Ecke gab? Wo man durch die Regale laufen, sich inspirieren lassen und die Waren selbst in den Einkaufswagen legen kann?«
»Ja, zumindest einer ist hier noch in der Nähe geblieben. Für die großen Shopping-Erlebniscenter fehlt mir die Geduld, das zu finden, was ich wirklich haben möchte. Das kostet zu viel Zeit und Energie. Ich kaufe alles Lebensnotwendige digital ein und lasse es mir liefern. Manches besorge ich auch hier in unserem kleinen Einkaufs- und Dienstleistungszentrum, aber da bekommt man nur das Nötigste. Eigentlich ist es überwiegend ein Bestell-Service für Leute, die das an ihrem eigenen Computersystem nicht können. Aber so ein richtiges Markterlebnis, bei dem ich die Sachen anfassen und auch wieder zurücklegen kann, gönne ich mir gern ab und zu – auch viele andere Leute schätzen das.«
»O ja, ich bin dabei!« Jutta freut sich über die Begeisterung in Sandras Stimme, deren wieder anders buntes Outfit sie nicht stört. Dieses Aussehen gehört zu Sandra und sie mag die junge Frau jeden Tag mehr.
Mit dem kleinen Elektroauto rollen die beiden Frauen zur Busabfahrtsstelle, während Jutta erzählt, wie noch vor dreißig Jahren das Einkaufen ablief: »Fast jeder hatte ein eigenes Auto, viele Familien sogar zwei und mehr. Außerdem fuhren öffentliche Busse zu den Einkaufszentren. Man schnappte sich gegen einen Pfand von einem Euro einen Einkaufswagen und lief an den Regalen entlang, suchte und wählte aus einem riesigen Überangebot Waren aus und packte sie in den Wagen. Dann stand man an der Kasse und legte jedes Stück auf ein Band. Dort saß eine Kassiererin, die die durch Strichcode gezeichneten Waren einscannte. Das waren rückenunfreundliche Arbeitsplätze, dazu meist schlecht bezahlt und mit ungünstigen Arbeitszeiten. Danach packte der Käufer alle Einzelteile wieder in den Wagen und bezahlte an der Kasse die Rechnung mit Bargeld oder durch eine Scheck-Karte. Schließlich hieß es alles im Auto zu verstauen, zu Hause wieder auszupacken und Treppen hochzutragen – nur die wenigsten hatten schon einen Aufzug im Haus.«
»Meine Güte, war früher Einkaufen umständlich!“, ruft Sandra aus.
»Ja, schon, aber das nahmen wir jahrelang gern hin, um endlich alles und in großer Auswahl kaufen zu können. Ich erinnere mich an die siebziger Jahre in der DDR. Da waren so viele Dinge Mangelware, dass sie mehr unter als über dem Ladentisch vergeben wurden. Man kaufte auf Vorrat, was es gerade gab. Mancher hatte in Form von Ersatzteilen fast schon einen zweiten »Trabant« im Keller! Sogar Wurst und Fleisch waren eine Zeitlang rar, weil sie als Exportgüter für erforderliche Zahlungen an den Westen und nach Russland notwendig waren. So hielten manche die Fleischerläden für Fliesenläden. Der Witz der Sache: Fliesen waren auch Mangelware und wurden gegen Westgeld gehandelt! Oft wurde von blauen Fliesen gesprochen, wenn man einen Hundert-DM-Schein meinte. Manche Handwerkerleistung kostete dann beispielsweise fünf blaue Fliesen!«
Sandra lacht und schüttelt den Kopf: »Sie haben wirklich in einer anderen Welt gelebt, wer soll sich das noch vorstellen können!«
Am Bus drängen sich mehr als zwanzig Frauen und vier Männer, die die Einkaufsfahrt als willkommene Abwechslung nutzen. Zwei Frauen kommen auf Jutta zu und mustern Sandra: »Na Jutta, jetzt hast du jüngere Gesellschaft und willst nicht mehr mit uns Rommé spielen?« sagt die kleinere von beiden.
»Quatsch«, entgegnet Jutta, »lasst erst meinen Geburtstag vorbei sein, mir ist alles ein bissel viel im Moment.«
»Man muss Prioritäten setzen«, fällt die große Dünne mit rosagefärbten