Fletcher meint: „Ich glaube, Vince war ziemlich überrascht über unsere gelassene Reaktion, aber wir waren ja eigentlich darauf vorbereitet – die ganze Atmosphäre war so mies geworden. Wir drei und Vince gehörten schon kaum mehr zusammen. Er hatte das Gefühl, dass wir in den Besitz der Öffentlichkeit übergegangen waren, es gefiel ihm nicht, was mit Depeche Mode geschah, er wollte nicht berühmt sein und hasste es, auf Tour gehen zu müssen.“
Alle einigten sich darauf, Clarkes Ausstieg geheim zu halten, bis die Herbsttournee 1981 vorüber war. „Vince hatte uns sehr rechtzeitig gesagt, dass er wegwollte“, sagt Miller, „aber wir beschlossen, davon nichts verlauten zu lassen, denn wir waren gerade im Begriff, den amerikanischen Vertrag mit Sire Records zu unterschreiben, und wollten nicht, dass die durchdrehten, wenn wir ihnen gesagt hätten, dass der wichtigste Songwriter der Band uns verlassen will.“
Am 31. Oktober brachen Depeche Mode zur ersten UK-Tour auf, wobei Clarke mitfuhr, um Promotion für das kommende erste Album, Speak And Spell, zu machen. Depeche Mode nahmen an der ausverkauften Tour als Vorgruppe für das Electro-Pop-Duo Blancmange teil, das auch auf Stevos Some Bizzare Album gespielt hatte. Trotz Clarkes geheim gehaltenem Entschluss, auszusteigen, vertrug man sich und sprach miteinander, sagt Daryl Bamonte: „Die drei anderen ließen sich nicht beirren und wollten sich nicht daran hindern lassen, auf der Tour ihren Spaß zu haben.“
Bamonte, der als Roadie dabei war, beschreibt das Publikum als ziemlich gemischt. „Da waren etliche junge Fans, aber auch die alte ‚Regenmantelbrigade‘, denn es war ja wieder eine Clubtour, bei der die Band oft erst gegen Mitternacht auf die Bühne kam. In vielen Clubs – wie zum Beispiel im Top Rank in Birmingham – betrug das Mindestalter der Gäste achtzehn Jahre.“ Fletcher entwickelte seine eigene Theorie über den Altersunterschied zwischen denjenigen, die ihre Platten kauften, und denjenigen, für die sie bei ihren Gigs spielten: „Ich glaube nicht, dass Tourneen eine große Rolle für unsere Musik spielen. Die meisten Käufer unserer Platten waren wahrscheinlich noch nie im Leben bei einem Gig dabei und würden das wohl auch niemals tun. Die sehen sich lieber Fotos von uns in den Magazinen an.“
Am vordersten Bühnenrand zeigte der charismatische Dave Gahan schon jetzt Eigenschaften einer richtigen Rampensau, verglichen mit den Rock’n’Roll-Auftritten späterer Jahre war das aber noch recht bescheiden. Die Musiker hatten noch keine rechte Vorstellung davon, wie sie sich in der Öffentlichkeit präsentieren wollten. Sie waren schlimm angezogen, in einer Mischung aus New-Romantics-Lumpen und billigem High-Street-Zeug. Am schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass die Synthesizer – anders als Gitarren – an festen Plätzen auf der Bühne standen, was ihnen jede Möglichkeit nahm, sich auf der Bühne wie professionelle Performer zu bewegen. Gary Numan hatte dieses Problem dadurch gelöst, dass er eine lebhafte Light-Show veranstaltete und außerdem mit einer Art eingefrorener Pantomime Körpersprache vermittelte. The Human League benutzten Projektoren, um interessante Dias auf dem Bühnenhintergrund zu zeigen, und Kraftwerk hatten Schaufensterpuppen als Doppelgänger auf die Bühne gestellt. „Wir machen keine Fotosessions mehr“, sagte Ralf Hütter von Kraftwerk Ende der Siebzigerjahre. „Unsere Dummys sind plastisch und widerstandsfähiger gegen Fotos.“
Depeche Mode waren nicht die einzige elektronische Band, die Probleme damit hatte, ihre Musik zu visualisieren. Andy McCluskey von OMD, der eher wie ein Erdkundelehrer aussah als wie ein Popstar, räumte ein: „Visuell ist unser Image eine Katastrophe. Wir sehen aus wie ein Haufen Idioten, die man gerade von der Straße geholt hat.“
Hinter der Bühne verbrachten Gahan und Gore die meiste Zeit mit ihren Freundinnen, Joanna und Anne, die beide auf Tour auch aushalfen – Jo leitete den Fanklub der Band, und Anne arbeitete am Merchandising-Stand. Daryl Bamonte, der gerade die Schule abgeschlossen hatte, war jetzt ganzzeitlich Roadie und sorgte für eine vertraute, freundschaftliche Atmosphäre hinter den Kulissen. Jeder, der mit auf Tournee war, empfand den bevorstehenden Verlust von Clarke beim letzten Gig der Band im Londoner Lyceum am 16. November als schmerzlich. Als das Konzert zu Ende war, ging der Songwriter davon, drehte sich noch einmal um und winkte zum Abschied.
Mitte November 1981 veröffentlichten Mute das erste Album. „Das war auch wieder eine aufregende Zeit“, sagte Miller. „Als die Platte auf den Markt kam, bezogen wir auch unser erstes richtiges Büro, und ich nahm zu den drei Angestellten noch einen vierten dazu. Das war auf dem Seymour Place im Londoner West End.“ Daniel Miller und Depeche Mode hatten das Album Speak And Spell gemeinsam produziert; es erreichte Platz 10 der Charts und hielt sich zweiunddreißig Wochen lang in der Bestenliste. Die Platte enthielt die beiden Hitsingles „New Life“ und „Just Can’t Get Enough“ sowie einige Lieblingstracks der Band aus den Livekonzerten. Das Cover mit dem Bild eines Schwans machte zwar nicht viel Sinn und kam auch nicht allzu gut rüber, aber damit zog die Band doch einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und anderen Gruppen, die Fotos ihrer Gesichter auf den Plattenhüllen bevorzugten.
Der Fotograf und Coverdesigner Brian Griffin hatte schon etliche berühmte Hüllen in den späten Siebzigern und zu Beginn des neuen Jahrzehnts illustriert, unter anderem für Elvis Costellos Armed Forces, Joe Jacksons Look Sharp und Iggy Pops Soldier sowie für Teardrop Explodes, Echo and The Bunnymen und Devo. „Damals hatte mein Agent ein Büro auf dem Seymour Place“, erinnert sich Griffin. „Er hatte den ersten, zweiten und dritten Stock gemietet, und eines Tages erzählte er mir, eine kleine Plattenfirma sei im Parterre eingezogen, die ein Plattencover brauche. Ich musste nur eine Treppe hinuntergehen, um Daniel in seinem kleinen Büro zu treffen. Ich ließ mich informieren, wobei ich das erste Meeting mit der Band ziemlich seltsam fand, denn sie wirkten sehr passiv. Da war kein Eifer, alles schien ihnen egal. Aber je länger ich mit ihnen arbeitete, umso engagierter wurden sie. Ich machte das Coverfoto in meinem Studio in Rotherhithe. Ich habe keinen Schimmer, wie ich auf den Gedanken kam, einen Schwan in einen Plastikbeutel zu packen. Ihre Reaktion auf das Motiv fiel sehr zweifelnd aus.“
„Es war scheußlich“, sagte Gahan kurz nach Veröffentlichung der Platte. „Brian Griffin erklärte uns vorab seine Idee: Wir sollten uns vorstellen, wie ein Schwan in der Luft oder auf einem Meer aus Glas schwebe. Und das klang ganz großartig. Hinterher war es aber nur ein ausgestopfter Schwan in einem Plastikbeutel! Es sollte alles hübsch und romantisch sein, doch dann war es nur komisch.“
Speak And Spell bekam überwiegend positive Kritiken. Sounds beschrieb das Album als „trendy Electro-Disco-Beats, die Hand in Hand gehen mit Chorknabenmelodien und einem Karussell von Neo-Folk-Synthies, um ein perfektes, unverschnörkeltes Popsoufflé hervorzubringen“. Und der Melody Maker meinte: „Das klingt so eindeutig fröhlich, so klar und sprühend vor neuem Leben, dass man meint, sie müssten eigentlich tanzende Schatten in die Wände brennen.“ Paul Morley vom NME schrieb: „Depeche Mode nehmen die glänzende, flüchtige, oberflächliche und vorhersehbare Nettigkeit des Teen-Bop – das passive Muster von Slik, das frische Tempo der Bay City Rollers – und emaillieren sie mit Intelligenz und Unbekümmertheit. Depeche Mode führen die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, in den Bubblegum ein.“ Der Record Mirror bewertete die Platte mit der Höchstnote – fünf Punkten – und beschrieb sie als „charmante, kecke Kollektion verführerischer Tanzlieder, sprudelnd und knapp, wie Popmusik sein sollte“. Der Autor der Plattenkritik empfand den ernsthafteren Track „Photographic“ als Höhepunkt und meinte: „‚Photographic‘ klingt wie die beste Musik von Gary Numan – nur noch besser: Alle düsteren Passagen, textlich wie musikalisch, kommen mit einem schnell tanzbaren Beat statt mit der Feierlichkeit, die Numan stets allzu dick auftrug.“
Speak And Spell klingt tatsächlich sehr kaugummimäßig und naiv, enthält aber schon Hinweise darauf, dass die Band durchaus bereit ist, atmosphärisch dichtere Gebiete und Themen zu ergründen. Die Beiträge „Photographic“ und „Puppets“ von Vince Clarke und das verträumte „Any Second Now“ weisen schon in diese Richtung, aber noch wichtiger für diesen Trend sind Martin Gores „Tora! Tora! Tora!“ und das exzellente Instrumentalstück „Big Muff“. Speak And Spell enthält außerdem auch den reinen elektronischen Sound ihrer Liveauftritte und an Kraftwerk erinnernde Klarheit, gemischt mit eindeutigen Teenagerpopklängen. Daniel Miller betont: „Wir haben nie polyfone Synthesizer benutzt, um Akkorde zu spielen. Wir