Wilder empfand Dave Gahan offener als die anderen. „Er kann dir stundenlang von seinen Gefühlen und Empfindungen erzählen und am Ende sogar in Tränen ausbrechen; er ist das genaue Gegenteil von Martin. Ich konnte mit Dave viel besser sprechen und mich austauschen als mit Martin oder Fletch, weil er nun mal viel zugänglicher und aufgeschlossener ist. Welche Fehler er auch immer haben mag – er hat eine sehr liebenswerte Seite. Außerdem ist er auch sehr witzig, was viele Leute gar nicht vermuten. Er ist ein brillanter Mimiker, richtig toll – nicht in Worten, aber in visueller Hinsicht. Wir haben uns gekrümmt vor Lachen, wenn er Tony Hadley von Spandau Ballet imitierte. Er konnte auch unseren Promoter Neil Ferris gut nachahmen – es war einfach irre. Neil trug die allerweißesten Hosen und enge Jeans – so wie Peter Powell, der DJ von Radio One. Neil kam immer voller Energie hereingeschneit, und Dave konnte das wunderbar nachmachen. Ich kam mit Dave am besten aus, und wir hatten beide immer mal wieder ein Problem mit Fletch, also waren wir in dieser Hinsicht wirklich einig.“
Inzwischen hatte sich die Beziehung zwischen Dave Gahan und dem nervigen, unberechenbaren Fletcher nach einem Muster entwickelt, das sich zwischen freundlichem Geplauder und echtem Ärger bewegte. Daniel Miller: „Es stimmt schon, dass es zwischen Dave und Fletch gelegentlich zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Meist geht es dabei um absolut nichts oder um irgendein Missverständnis. Und oftmals sind sie sich hinterher völlig einig. Ich habe einige wirklich lächerliche Unterhaltungen der beiden mit angehört, bei denen sie erbittert miteinander stritten, denn das ist die einzige Art, wie sie miteinander reden können – mit Streit und Argumenten. Bei jeder gemeinsamen Besprechung ist es dasselbe: Innerhalb von Sekunden geraten sich die beiden in die Haare. Vom allerersten Tag an herrschte zwischen Dave und Fletch Spannung. Aber so schlimm kann es auch wieder nicht sein, denn sonst würden sie ja nicht mehr zusammenarbeiten. Würde man sie fragen, worüber sie gerade gestritten haben, dann wüssten sie es wahrscheinlich gar nicht mehr. Mit der Zeit sind sie aber beide viel vorsichtiger und zurückhaltender in ihren Konfrontationen geworden. Wir versuchen, gefährlichen Situationen aus dem Weg zu gehen, damit es gar nicht erst zu Streit kommen kann – aber selbst nach achtzehn Jahren giften sie sich immer noch gelegentlich an.“
Am Ende der Tournee spielten Depeche Mode ein „Geheimkonzert“ im alten Club der Jungs, dem Bridgehouse. Paul Colbert vom Melody Maker war dabei: „Der Club war knallvoll bis in die Toiletten. Wilde Aufgeregtheit und stampfende Füße – und das war doch erst das Personal hinter der Bar.“ Der Promoter des Konzerts, Terry Murphy, wollte eintausend Pfund Gage zahlen, aber Depeche Mode bestanden darauf, dass er das Geld für die Renovierung des Pubs verwenden sollte.
Die erste Europatournee begann im Rock-Ola in Madrid am 4. März 1982, es folgten Shows in Stockholm, Hamburg, Hannover, Berlin, Rotterdam, Oberkorn, Paris und Mechelen sowie zwei Termine auf den Kanalinseln. Das Konzert im Le Palace in Paris war für zweieinhalb Jahre das letzte in Frankreich. „Die Franzosen sind so unfreundlich zu uns, bestimmt hat das etwas mit unserem Namen zu tun“, sagte Gahan. „Mir würde es wahrscheinlich genauso gehen, wenn bei uns eine französische Band mit dem Namen Woman’s Own aufträte.“
Anne Berning, die später bei der Stuttgarter Intercord, dem deutschen Partner von Mute, arbeitete, erinnert sich, wie die jungen Synthie-Popper zum ersten Mal nach Deutschland kamen: „Sie tauchten mit ‚Just Can’t Get Enough‘ zuerst in der deutschen Poppresse auf. Das Teenagermusikmagazin Bravo war auf sie aufmerksam geworden und brachte eine Reihe von Features. Zunächst galten Depeche Mode als ausgesprochene Teenieband. Sie waren bei den Mainstream-Teenagern sehr angesagt, aber das war auch alles.“ Doch immerhin stellte das Hi-Fi-Magazin Audio das Album Speak And Spell seinen Lesern schon im Januar 1982 als Platte des Monats vor, nachdem die Band im November 1981 zum ersten Mal für Promotiontermine nach Deutschland gekommen war. Damals verweigerte ihnen das Münchner Park Hilton noch den Zugang zum Restaurant, weil sie keine Krawatten trugen.
Alan Wilder erinnert sich: „Wir wurden ständig gebeten, Popmagazinen wie Bravo Interviews und Fotosessions zu gewähren. Blöde Fotos und Mist kamen dabei heraus. Die deutsche Plattenfirma wollte so viel Kapital aus uns herausschlagen wie nur möglich.“ Aber die Intercord akzeptierte auch, dass die Musiker der Bravo einige Jahre lang keine Interviews mehr geben wollten – was ihnen bei „seriöseren“ und erwachseneren Magazinen viel Respekt verschaffte.
Im Monat nach der Europatour gingen Depeche Mode, wieder ohne Alan Wilder, erneut ins Plattenstudio. „Ich verstand durchaus, dass sie nicht den Anschein erwecken wollten, als würden sie Vince Clarke durch mich ersetzen“, sagt Wilder ein wenig reserviert. „Sie wollten der Welt zeigen, dass sie auch ohne ihn weitermachen konnten. Das war mir klar, aber es war für mich trotzdem ziemlich frustrierend.“
Am 26. April erschien die recht belanglose Single „Meaning Of Love“, die in den Charts auf Platz 12 kam. Das war zwar eine gute Position, aber zur gleichen Zeit kletterte „Only You“ von Vince Clarkes neuer Formation Yazoo, einem Duo, auf Platz 2 – ausgerechnet jener Titel, den er zum Abschied angeboten hatte und den sie abgelehnt hatten. Bei Yazoo sang Alf alias Alison Moyet, ein Mädchen aus Essex. Natürlich freute sich Clarke darüber ebenso sehr, wie sich seine früheren Kollegen ärgerten, und die Medien heizten die Rivalität noch weiter an. Das Magazin The Face besprach beide Singles und kam zu dem Schluss: „Depeche Mode könnten eine Lektion daraus lernen.“ Am schlimmsten war, dass „Meaning Of Love“ tatsächlich wie eine müde Imitation von „Only You“ klang, weil Gore versucht hatte, den melancholischen Stil von Vince Clarke nachzuahmen. Angesichts der Verwirrung und Unsicherheit, die in der Gefühlswelt von Depeche Mode hinter den Fassaden herrschten, überraschte es nicht, dass die Wut auf ihren Exsongwriter 1982 noch eine ganze Weile in ihnen kochte. „Es gab eine gewisse Rivalität, und ich wollte allen gegenüber fair sein“, rekapituliert Daniel Miller, der auch Yazoo unter Ver-trag hatte, diplomatisch. „Depeche Mode machten großartige Platten und Yazoo auch. Damals nahm ich etwa zwei Jahre lang keine neuen Künstler mehr unter Vertrag – von dem Zeitpunkt an, als ich anfing, mit Depeche Mode zu arbeiten, bis 1983, als Birthday Party zu mir kamen. Ich konnte keine neuen Bands unter Vertrag nehmen, weil ich einfach nicht die Zeit oder die Energie dafür gehabt hätte – die ging restlos für die Gruppen drauf, die ich schon hatte. Es gab zwar Probleme, aber keine der beiden Seiten trieb die Situation auf die Spitze. Niemand sagte: ‚Wenn der auf deinem Label ist, dann gehen wir.‘ So schlimm wurde es nie.“
Im Frühjahr 1982 bemerkte Dave Gahan allerdings bissig: „Vince hat ein paar Werbespots und ein paar Jingles gemacht. Uns hat man auch einen Werbespot angeboten, aber wir konnten und wollten das einfach nicht machen.“ Weitaus gnädiger äußerte er sich bei anderer Gelegenheit: „Wir alle finden Yazoo richtig gut, ehrlich. Wir haben sie uns mal im Dominion in London ange-sehen und waren sehr beeindruckt, besonders von der Diashow. Manchmal begegnen wir Vince auf den Korridoren von Mute, doch die persönlichen Kontakte sind abgerissen. Aber er hört ja nie lang genug auf zu arbeiten, um überhaupt mal jemanden zu treffen.“
Daryl Bamonte glaubt, es herrschte einfach eine ganz natürliche Eifersucht zwischen den Beteiligten: „Keiner wünschte, dass Vince scheitert, aber Depeche Mode sollten einfach mehr Platten verkaufen als er. Schließlich standen sie unter starkem Konkurrenzdruck mit allen. Bei einem Gig erzählte Daniel, dass Soft Cell mit ‚Tainted Love‘ eine Nummer 1 in den Charts hatten. Da sagte