Depeche Mode - Die Biografie. Steve Malins. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Steve Malins
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454304
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hatte ich nur einen einzigen Angestellten“, sagt Miller im geschäftigen, modernen Firmensitz in der Londoner Harrow Road, wo heute zahlreiche Beschäftigte arbeiten. Ende 1980 betrieb Miller die Firma noch von seiner Privatwohnung in Nordlondon nahe Golders Green aus.

      Obwohl Miller und Depeche Mode immerhin eine formlose und mündliche Vereinbarung getroffen hatten, wartete aber auch Stevo immer noch im Hintergrund auf seine Chance. Der Einzelgänger sagt: „Die Jungs von Depeche Mode waren sich sehr unschlüssig, ob sie sich Mute anschließen sollten oder Some Bizzare, denn wir hatten gute Möglichkeiten, sie bei den Medien bekannt zu machen. Also ging ich bei einem Gig backstage und sagte Daniel: ‚Ich habe Depeche Mode gerade versichert, dass du ein großartiger Mensch bist und sie sich für dich entscheiden sollten.‘ Ihnen sagte ich, dass Daniel grundehrlich und vertrauenswürdig ist. Damals hatte ich The The und Soft Cell auf meinem Label, und Daniel hatte Fad Gadget. Damit war er künstlerisch auf dem richtigen Weg. Seither pflegten wir immer gute Beziehungen. Wenn ich in Schwierigkeiten geriet, hat mir Daniel immer ausgeholfen.“

      Miller bestätigt, dass der exzentrische, lebhafte und instinktsichere Pionier Stevo eher ein Verbündeter als ein Rivale war: „Ich hatte schon seit Ewigkeiten mit Stevo zusammengearbeitet. Als er noch DJ war, schickte ich ihm immer unsere Mute-Platten zu. Dann machte er Promotion für Konzerte im Clarendon unter dem Motto ‚Stevo’s Electronic Parties‘. Alle unsere Bands waren dabei – DAF, Fad Gadget, Boyd Rice. Wir waren richtig gute Freunde, und Stevo erzählte mir von seinem geplanten Some Bizzare Album. Er wollte für das Projekt Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire und mich gewinnen. Wir bekamen eine Menge Demo-Tapes zugeschickt, und er wollte alle diese jungen Bands, von denen niemand jemals etwas gehört hatte, auf der Platte haben. Zwischen uns gab es keinerlei Rivalität. Ich hatte Soft Cell schon lange vor Stevo gehört, denn Frank Tovey war mit Marc Almond von Soft Cell auf dem College gewesen. Stevo hatte Depeche Mode ein paar Tage vor mir live erlebt, aber er begeisterte sich restlos für Soft Cell – und ich für Depeche Mode. Da sagte er: ‚Also gut, du nimmst Depeche Mode, und ich nehme Soft Cell.‘ Ich glaube, Depeche Mode wollten sowieso lieber mit mir zusammenarbeiten – aber schließlich kam es dann doch so, dass ich die Single ‚Memorabilia‘ von Soft Cell produzierte und dass Depeche Mode auch einen Song zu Stevos Some Bizzare Album beisteuerten.“

      Stevo erinnert sich daran, wie Daniel Miller und Soft Cell „Memorabilia“ einspielten. „Ich kam um halb elf Uhr vormittags ins kleine Studio im East End. Ich war betrunken. Es war Daniels Geburtstag, und er war die ganze Nacht auf gewesen. Also sagte ich: ‚Happy birthday, Daniel.‘ Und er kotzte den Fuß­boden voll. Das stank. Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Platte dadurch ihren scharfen Klang bekam. Hat je einer versucht, unter solchen Umständen eine Platte zu produzieren? Ich wollte nur so schnell wie möglich wieder raus.“

      Ende 1980 gingen Depeche Mode in ein Studio im Osten von London, um „Photographic“ für das Some Bizzare Album einzuspielen. „Ich wollte für Stevos Album einen wirklich guten Song liefern, aber nicht unbedingt den allerbesten“, sagt Miller, der bei dieser Aufnahme als Produzent einsprang. Die Band baute ihre Ausrüstung auf, und ihr neuer Mentor bat sie, „Dreaming Of Me“, „Ice Machine“ und „Photographic“ live zu spielen. Ihre Instrumente waren damals ein Moog-Prodigy-Synthesizer, ein Yamaha C55, ein kleiner Kawai-­Synthie und eine Dr. Rhythm, eine sehr einfache, programmierbare Drum Machine. Miller hatte einige Synthesizer, die ein wenig, aber nicht allzu viel raffinierter waren, darunter einen ARP 2600, einen Synthie in Modulbauweise mit zusätzlichem Analogsequenzer. „Vince sagte nur ‚Wow!‘, als er das sah“, lacht Miller. „Er war am meisten vom Sequenzer beeindruckt, denn er wollte einen sehr präzisen Klang haben, also benutzten wir den für ‚Photographic‘. Wir schafften den Track sehr schnell; innerhalb nur eines Tages war er eingespielt und abgemischt.“

      Daniel Miller fand es toll, eine Teenagerpopband entdeckt zu haben, die auch noch eine ganz einfache, rein elektronische Gruppe war. „Das Besondere an Depeche Mode war die minimalistische Art zu spielen; da gab es keinen Ton und keine Passage, die nicht unbedingt da zu sein hatten. Diese Musik war rein funktional. Und das war auch die einzige Art zu spielen, denn die vier hatten ja nur das allereinfachste Equipment. Sie hatten nur monofone und keine polyfonen Synthesizer, auf denen sie immer nur eine Note zur gleichen Zeit spielen konnten, keine Akkorde. Aber sie wussten diese Beschränkungen gut zu nutzen. Ich hatte schon viele Tapes mit sehr aufwendiger, vielschichtiger Musik geschickt bekommen, die aber nicht sehr gut waren. Depeche Mode hingegen waren so gänzlich unaufwendig, und genau das gefiel mir.“

      Millers ehrgeizige puristische Einstellung zu elektronischer Musik war zum Teil von der minimalistischen Art von Kraftwerk inspiriert, die auf den höchst einflussreichen Alben Die Mensch-Maschine und Trans Europa Express in den Siebzigerjahren zu hören war. Ralf Hütter von Kraftwerk sagt dazu: „Wir können eine Idee mit ein oder zwei Noten rüberbringen, und das ist besser, als es mit etlichen Hundert Noten zu versuchen. Bei unseren Musikmaschinen kommt es nicht darauf an, sie mit Virtuosität zu bedienen – alle Virtuosität, die wir brauchen, steckt in den Maschinen. Also konzentrieren wir uns bei unserer Arbeit auf einen sehr unmittelbaren Minimalismus.“

      Ende 1980 erschienen Depeche Mode zum ersten Mal in der Presse, als das Evening Echo von Basildon einen Artikel über die Band brachte. Der Verfasser meinte: „Sie könnten eine große Zukunft haben, wenn ihnen nur jemand mal einen guten Schneider empfähle.“ Fletcher bestätigte das Bekleidungsproblem: „Ich trug damals Jogginganzüge, Fußballsocken und Hausschuhe. Martin bemalte sein Gesicht zur Hälfte weiß, und Vince sah aus wie ein Flüchtling aus Vietnam. Er legte seinem Gesicht Sonnenbräune auf, färbte seine Haare schwarz und trug ein Stirnband.“ Boyd Rice erinnert sich an sein erstes Zusammentreffen mit Vince Clarke im Londoner Bridgehouse: „Er sah aus wie die Schauspielerin Lucille Ball.“

      — 2 —

      Dreaming Of Me

      1981

      Im Februar 1981 veröffentlichte Stevo sein lang erwartetes Traumprojekt, das Some Bizzare Album. Es war eine fantasievolle, eklektische Platte, die über die monochromatischen, roboterhaften Vorstellungen hinausging, die man mit dem Popfuturismus verband. Das Programm begann mit dem hübschen, mutigen Minimalismus des Titels „Sad Day“ von Blancmange, der sich sehr von den späteren Hits des Duos wie „Living On The Ceiling“, „Blind Vision“ und „Waves“ unterschied. Neben Depeche Mode feierte auch das Duo Soft Cell auf der Platte mit dem psychopathischen Song „The Girl With The Patent Leather Face“ sein Debüt, ebenso wie Matt Johnsons Formation The The, die einen namenlosen Track mit kahlem Gesang und paranoider urbaner Atmosphäre beisteuerte. Bill Nelson, früher bei Be Bop Deluxe, war unter dem Namen Eric Random mit dem Song „I Dare Say It Will Hurt A Little“ dabei. Aber viele der anderen Acts – zum Beispiel Neu Electrikk und Naked Lunch – waren obskur und blieben dies auch.

      Chris Bohn vom New Musical Express schrieb über „Photographic“ von Depeche Mode, der Song sei „sehr selbstsicher und sauber strukturiert mit seinen verzweigten Synthie-Melodien, die teilweise durch die futuristischen Texte im Stil der Dreißigerjahre verunziert, aber vom anhaltenden Beben eines Leitmotivs gerettet werden“.

      Auf dem Some Bizzare Album dominierten einige „futuristische“ musikalische Konventionen jener Zeit: Die meisten elektronischen Klänge wirkten nackt, minimal und symmetrisch; primitive Drum Machines trieben die Songs mit einer seltsamen und ruckartigen Wucht voran; die Do-it-yourself-Produktionen begünstigten seltsam losgelöste, monotone Laute der verschiedenen Sänger. Nichtsdestotrotz war diese „futuristische“ Popmusik wirklich etwas ganz anderes als die fröhlich verspielten, aber musikalisch konventionelleren Töne der New Romantics. „Wir waren Futuristen“, sagte Dave Gahan etliche Jahre später, „denn wir hatten mit Leuten zu tun, die individuell sein wollten. Die New-Romantics-Zeit bedeutete, dass alle Leute gleich aussahen, auch wenn sie sich noch so extravagant gaben. Die Futuristen waren eine Weiterentwicklung des Punk. Und das waren damals unsere Fans.“

      Fast zwanzig Jahre später spricht Stevo leidenschaftlich über die Verbindung zwischen Some Bizzare und der Kunstrichtung der Jahrhundertwende: „Niemand wollte sich wirklich Futurist nennen lassen, denn das hieß, dass man keinen Sinn für Humor hatte und ein Science-Fiction-Besessener