Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895935
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des Festsaals beim Sekt stramm bucklig beieinander und schmatzten die Gustostücke ihrer lokalpolitisch-sozialdarwinistischen Revierpinkelperspektiven durch. In einer Vitrine neben ihnen lagen zwei neuere, fein gemachte Katalogbücher des Hauses, deren Edition in die Hände des Verlages Weisser Stein gelegt war. Grob gehässig und brunzdumm, ohne jeglichen Schimmer, wovon sie eigentlich faselten, maulten die Herren höchst einig und saftig gegen »den Rudolf«. Jeder Hund mit drei Flaschen Sekt intus brächte beim In-die-Ecke-Scheißen auf Anhieb Menschenwürdigeres zustande als dieser Sauhaufen stumpf maligner Aufgerüttelter, in seiner verbeißwütigen Fiesheit zwergenwüchsig stolz Avancierter.

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       Dieter Steinmann, Michael Rudolf, Greiz, 1993.

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      Einige Wochen, nachdem Michael Rudolf mich über die Greizer Himmelsleiter geführt hatte, wiederholte ich zusammen mit Jürgen Brömmer eines Nachts diesen Gang und trug ihm dabei auch vor, was ich von Michel und anderen in letzter Zeit über das neue Greiz gehört hatte. Und während wir dort oben am Hang saßen, war in der genau gleichen Himmelsrichtung wie damals wieder lautlos ein fernes Gewitter zu sehen, das wie zu unserem Vergnügen am Horizont entlangfuhrwerkte. Michel kommentierte diese Duplizität der Himmelserscheinungen tags drauf etwa so: »Ja, wenn man über so was redet, dann muß sich doch zumindest der Himmel erbarmen und ein paar Lichtzeichen geben; daß er versteht, oder was weiß ich …«

      Je länger ich mich besinne, um so deutlicher wird mir klar, daß Michel insgesamt eigentlich nur limitiert Lust hatte, sich an den verbollerten Seiten der Neuzeit in Greiz abzuarbeiten. Keineswegs begierig nach negativen Sensationen, schien er es eher mit einem Motto à la »Großer kulturstiftender Segen liegt auf der Erfindung der Klotür – man muß nicht jedem Arschloch beim Scheißen zusehen« zu halten. Seine Familie, Schönes und Gutes, Poesie, Knallmusik, das Schreiben über erstaunlich Diverses und ein Gang »in die Pilze« interessierten ihn x-mal mehr als die Wahrnehmung des weißderteufelwievielten Stinkskandals der Wendezeit.

      DABBISCH – Als der große Ludwigshafener Kulturpolitiker Gerhard Klemm einmal in amtlicher Mission in Greiz weilte, um über kulturaustauschstrategische Weichenstellungen zwischen dem Sommerpalais und wichtigen Kultureinrichtungen Ludwigshafens zu konferieren, erfuhr er auch Details der diversen Schwierigkeiten, mit denen Michel in Greiz konfrontiert war, nachdem der Schriftsteller Günter Ullmann und andere so unangemessen auf Michels Titanic-Glossen über Greiz reagiert hatten. Als Leser und hingegebener Verehrer der Dichterin Fanny Müller, als Veranstalter der ersten Lesung Gerhard Henschels aus Moselfahrten der Seele, auch sehr beeindruckt von Michels Büchern über das Schloß Liebau und den Reußischen Robinson, zeigte sich »der Präsident«, wie die Seinen Geheimrat Klemm bis heute nennen, derart empört und fassungslos, daß er nach Abschluß der offiziellen Konsultationen in der Billardkneipe des Hotels Zur Friedensbrücke, als er sein erstes Glas Bier des Abends in die Hand nahm, laut schallend ausrief: »Ja, leck misch am Aasch, sinn die komplett dabbisch, die Greizer?« Trotz der ungewohnten Mundart des Volksvertreters und emeritierten Preisboxers kriegten die wenigen, trübe an den Pooltischen und Daddelkästen laborierenden Einheimischen einigermaßen glatt mit, was Klemm da in den Raum gestellt hatte, und guckten entsprechend grätzig drein. Er hatte aber seinem heiligen Zorn offenbar derart ausdrucksstark Luft gemacht, daß es niemand wagte, ihn auch nur zu fragen, wie er seine ziemlich rhetorisch formulierte Erkundigung gemeint habe. Als Michel später zu uns stieß, erfreute er sich sehr an den ziemlich weit weisenden Hinweisen Klemms, wie mit jenen zu verfahren sei, die dem Verleger und auch dem Direktor des Sommerpalais ihr Leben schwermachten – Überlegungen, in denen die aktuellen Hochwasser der nahen Weissen Elster eine zentrale Rolle spielten.

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      VOM SCHÖNEN AUF DER WELT – Etwa 1993 muß es gewesen sein, als Michel sich einen wohl seit längerem gehegten Wunsch erfüllte. Eine hochwertige, bombenfest verarbeitete Aktentasche aus festem Leder gönnte er sich, gemeinsam mit Ina in Zwickau gekauft, und Ina hatte schöne rote Schuhe dort gefunden. Als ein stilsicher dezent gestaltetes, klassisch zu nennendes Stück, formal und habituell entschieden konträr zu den allenthalben strotzend gestalteten Aktenkoffern, Flight-Cases, »Piloten-Taschen« und virulent in Mode gekommenen Rucksäcken jener Epoche, zeigte sich Michels Aktentasche, die Verlegertasche, wie seine Kumpels witzelten. Wenn sie überhaupt etwas ausstrahlte außer gehobener Aktentaschenhaftigkeit, dann die Vertrauen und Zuversicht stiftende Solidität des Beständigen. Und falls ich mich richtig entsinne, dann sah Michels Aktentasche ein wenig so aus wie die archetypischen Taschen, die der Zeichner Bernd Pfarr immer mal wieder seiner Figur Sondermann an die Hand gab; jedenfalls angesichts der tadellosen Qualität also eine fraglos im Geist unprätentiösen Understatements gehaltene Anschaffung. Michel war so froh mit seiner Tasche: »So ein Taschenstück, ein schönes, das ist was Bleibendes …«

      EINZELHÄNDLERPOESIE UND WURSTSTRÄUßE UMS TAL DES TODES – Als Michel einmal kurz in meiner Heimatstadt weilte, wollte ich ihm fix einige Sehenswürdigkeiten zeigen. Er hatte mich ja stets mehr als gediegen über allerhand Beachtliches in Greiz und im Vogtland ins Bild gesetzt. Da galt es, etwas zu bieten. So fuhren wir am späten Abend durchs Zentrum, hielten kurz am gewaltig parvenühaft gestalteten und architektonisch verblüffend verkehrt in die Stadt gerammten, von einer extrem miserablen Plastik eitel gekrönten Hauptplatz und an einer selbst für Hiesige rätselhaft verzierten und mit bronzenem Kunstgewerbe bestückten Brunnen- und Wasserfallanlage. Zur Würdigung der modern gefaßten Seiten des Ortes reichten Michel diese Stadtmöbilisierungskleinodien erst mal hin; weiter sollte es gehen zu Zeugnissen eher folkloristischer Kapitel der jüngeren Stadtgeschichte.

      Aber zunächst machten wir Station vor den zierlich dekorierten Schaufenstern eines an Tradition reichen, hochangesehenen Bekleidungs- und Wäschefachgeschäfts an unserer Hauptstraße. Der Inhaber präsentiert hier nicht nur erste Qualitäten erfreulich souverän fernab alberner Modeaktualitäten, sondern versieht seine Auslagen originell mit kleinen Hinweisschildern aus schwarzem Karton. Darauf stehen, in weißer Tusche stets akkurat ausgeführt, hilfreichinformative Präzisierungen wie »Chice Strickweste«, »Flotter Pullover«, »Modisches Hemd«, »Klassisches Hemd«, »Hemd, Leinen«, »Elegante Krawatte«, »Sportlicher Pyjama«, »Socken, Wolle«, aber durchaus auch »Sexy Top«, »Modischer BH«, »Flottes Nachthemd« bis hin zu »Baby Doll, Synthetik«. Michel war hin und weg. So konzentriert eingedampfte Poesie – Arno Schmidts leuchtfeuerhaftes Postulat vom Dehydrieren der Sprache fiel ihm ein – bei gleichzeitig enorm konzise in Kongruenz gesetztem Bezug zu Tiefendimensionen des allermenschlichst Realen hatte er schon länger nicht mehr vor der Nase.

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       Zeichnung: Birgit Bysiak.

      Ergriffen und gespannt drängte er weiter. Denn ich hatte Michel, der zu jener Zeit schon den Plan seiner später dann so avancierten bierkulturellen Forschungen auf der Pfanne hatte, von einem kleinen Gassenensemble erzählt, von Kennern der sozialhistorischen Materie gerne »das Tal des Todes« genannt, in dem es, namentlich auch in beschaulichen Traditionslokalen, meist dergestalt hoch herging, daß man dort um Ohrfeigen oder schärfere Prügel nie groß betteln mußte. Michel kannte eine Anekdote, in der ein Fremder, ein Durchreisender vermutlich, die Hauptrolle spielt, der offenbar aus Versehen dort einst, und zwar im Auge des Orkans, in der legendenumwaberten Gaststube Zwickerstube, um ein Bier nachgesucht hatte. Der Mann hatte sein Glas Parkbräu scheinbar auch ohne weiteres bekommen, wollte allerdings dann bald zahlen und sich empfehlen; fatalerweise, noch bevor er sein Glas geleert hatte. Seitens der Leitung des Etablissements wies man ihn in aller Sachlichkeit darauf hin, daß hier die Gläser leergetrunken würden, hier mache man keine Reste. Daran solle er sich halten. Der Fremdling widersprach höflich, es habe ihm durchaus geschmeckt und gut gefallen, alles sei prima, nur durstig sei er nicht mehr, und so sei alles bestens.

      Eine Selbsttäuschung, denn so leicht ließ man ihn