Zeichnung: Nerling.
ÜBER MUSIK REDEN – Unter Laien, eventuell auch noch im Kreis Begeisterter, über populäre Musik zu reden, erbringt selten mehr Gescheites, als sich etwa gegenseitig Filmhandlungen nachzuerzählen, und nervt meist arg. Soweit waren Michel und ich uns beim Thema Rockmusik einig. Trotzdem waren wir, als Michel mal kurz bei mir zu Besuch weilte, während einer Autofahrt spätabends ins Plaudern über seine große Liebhaberei für elektrische Gitarrenmusik, für »gefährliche Gitarristen« geraten. Freude konnte ich ihm unter anderem damit bereiten, daß ich ihm haarklein von Konzerten des Mahavishnu Orchestra im Jahr 1972 berichtete, bei denen dieses Quintett des Gitarristen John McLaughlin mit seinem brillant-mordspenetranten, hymnisch jubilierenden Radau etliche Lücken zwischen Rock und Jazz verspachtelte. Wir fachsimpelten an der Frage herum, ob die große Leistungssportlichkeit derartiger Virtuositätswucht rückblickend besehen zu Recht auch ein wenig komisch anmutet; machten Witze von wegen Strebertum, zu eitler, vielleicht arroganter Pose bei diesem irgendwie quasibuddhistisch-feinstofflerisch aufgemotzten Gedröhn. War McLaughlin in der Schule vielleicht so ein »Schnellmelder« gewesen, so ein immer fickriger Fingerschnipser, der mit seiner Antwort den Lehrer schon mitten in der Frage rechts und links zugleich überholen wollte? Oder ein »Nervenzippelzappel«? Stünde vielleicht gar der Geist allgemeiner Ejaculatio-Praecoxhaftigkeit ungut im Raum? So etwa sinnierten wir vor uns hin und kamen wieder zu Michels Hinweisen auf mir unbekannte Hardrock-Radaubrüder. Es ging um Jeff Beck, Jimi Hendrix und Frank Zappa und um die Frage, was es rund um deren Herkommen denn so alles Interessantes gebe. Michel hatte in dieser Hinsicht einige Favoriten im Sinn: die jüngeren elektrischen Bluesgitarristen aus den größeren Städten Amerikas und unter den Älteren sowieso immer John Lee Hooker, Howlin’ Wolf oder B. B. King. Sein Herz schlug für die Elektriker, am lautesten für jene, die etwas heftiger zu Werke gehen.
So blieb er erst mal skeptisch, als ich ihm in Aussicht stellte, bei mir zu Hause nachher Schallplatten zu hören, an denen man bei Jimi Hendrix und Konsorten zu bestaunende Muster des sehr schön am eher ländlichen und am betont dezenter formulierten Blues vernehmen könne. »Country Blues? Nee …« Das schläfere doch wohl bestenfalls die Füße ein. Über so was sei man doch längst hinweg. Daheim dann, kurz vor dem Zubettgehen, Michel hatte schon den ersten Schlummerschluck aus einem Fläschchen Parkbräu-Pirminator-Starkbier zur Kenntnis genommen und war eh schon reichlich müde, spielte ich ihm eine LP des Gitarristen und Sängers Lightnin’ Hopkins aus Texas vor, Lightnin’ Strikes, aufgenommen 1965 gemeinsam mit dem Bassisten Jimmy Bond, dem Schlagzeuger Earl Palmer und dem Mundharmonikaspieler Don Crawford, produziert von Dave Hubert für das Label Verve-Folkways (FV/FVS 9022). Und gleich bei den ersten paar Takten des ersten Stückes, »Hurricane Betsy«, einem so tieftodtraurigen wie gleichermaßen vom Künstler aufrecht und geradeaus vorgetragenen, wunderschön melismatisch dahererzählten Lied, rutschte Michel beinahe sein Bierflaschl aus der Hand. So schwebend leicht und zugleich intensiv, in zauberhaft geschmeidigen Takten swingend wie vier morganatische Schweizer Sonntagsuhrwerke, die gemeinsam in den Musikantenhimmel wollen, hatte er ähnliches bisher nie gehört. Ein von Mätzchen völlig freies, bei sparsamstem Mitteleinsatz in filigranen Nuancen ausformuliertes Volksmusikstück über eine schlimme, böse Naturkatastrophe, in die Welt gestellt als lupenreine moderne Kunst; genau besehen eigentlich eine der Ewigkeit gewisse Sternstunde des Jazz. Michel nahm jeden Ton als Welturaufführung, war wieder hellwach geworden und murmelte vor sich hin, Könner wie Jimi Hendrix oder Bob Dylan hätten es mit solchen Vorvätern im Ohr doch ziemlich plausiblerweise zu Prachtstücken wie »Red House« oder »Desolation Row« bringen können.
Diese so diskret und konträr zu jeder Aufregung über die Welt und ihren Untergang klagende, freundliche Musik berührte Michel mehr, als daß sie ihm nur gut gefallen hätte. Um noch ein paar ähnliche Stücke von Mance Lipscomb, Mississippi John Hurt, Son House und J. B. Lenoir zu hören, blieb er dann ein halbes Stündchen länger wach, als er es nach einem anstrengenden Reisetag und einer turbulenten Ausstellungseröffnung eigentlich vorgehabt hatte. Und als wir später schlafen gingen, hörte ich aus seinem Zimmer, wie er sich leise noch mal die drei, vier schönsten Juwelen von der Lightnin’ Strikes-LP anhörte.
Am nächsten Morgen, bei hektischer Toilette in der Eile des Aufbruchs, fiel dann wie zauberisch das Waschbecken unter Michels verseiften Händen von der Wand, um derart pittoresk, als wollte die Klempnerinnung auf der Documenta St. Damokles feiern, schief in der Luft hängenzubleiben. Michel, der nach dem Versagen des Waschbeckens die Körperpflege für diesen Vormittag gut sein ließ und halb gewaschen dasitzen mußte, erhob beim Frühstück mehrfach das Buttermesser, um in putzig gespielter Andacht nur »Lightnin’ Hopkins … Zeichen und Wunder …« zu raunen – und: »Lightnin’ Hopkins, das sage ich euch …«
Pirmasens, 1992.
SCHÖN ANGEZOGEN – Michel Rudolf war meistens leger gekleidet: Jeans, einfarbige T-Shirts, Blousons, seltener auch Hemden oder Pullover. Im Sakko sah ich ihn nie. Seine Kleider trug er immer auf bemerkenswert aufgeräumte Weise. Alles paßte ihm wie auf die Haut geschneidert, harmonierte farblich, war sehr gepflegt, völlig frei von Accessoires etc. und kleidete ihn sehr. Er war ja überhaupt eine stattliche Erscheinung; ich will sagen: Er stand seinen Kleidern so gut, daß er in Bluejeans und kurzärmeligem T-Shirt immer dezent beste Figur machte. Auch Schlaghosen waren nicht Seins.
HIMMELSLEITER UND WETTERLEUCHTEN – Eines Sommerabends im Jahr 1994 wollte ich eigentlich nur Michel auf seinem Heimweg durch die Greizer Innenstadt begleiten. Thüringen stand gerade seinen ersten Kommunalwahlkampf westlicher Prägung durch, und an Hand großzügiger Plakatierung war an den Wänden der Stadt eindrücklich abzulesen, welche Kapazitäten und Programmatiken die junge Demokratie hier aufzubieten hatte. Im Bann dieser Werbetafeln gönnten wir uns ein etwas weitschweifigeres Schlendern, gingen vom Puschkinplatz her durch die Marktstraße, von der mir ein Greizer, immerhin unter Vermeidung des Wortes »Flair«, kürzlich mitgeteilt hatte, sie habe »so was Mediterranes«, und kamen dann zu einer Anhöhe, einer steilen Hanglage unmittelbar am Rand des Zentrums. Michel sagte: »Da gehen wir rauf, von dort oben siehst du das ganze Elend auf einen Blick!« Wir spazierten hoch, passierten einen langen, »Himmelsleiter« genannten Treppenweg und saßen dann tatsächlich, am Fuß einer auf den Berg gestellten kleinen Plattenbausiedlung, auf einem prima Aussichtspunkt über den Schornsteinen von Greiz. In der Ferne waren Gewitterblitze zu sehen, die laut Michel ungefähr bei Plauen herumzuckelten.
Michel hatte mir während des Abendessens schon allerhand darüber erzählt, wie flott und schief zugleich die Stadt und ihre Einrichtungen in den letzten Jahren auf neuostdeutsche Weststandards hingebügelt wurden. Mitnichten nur im Städtebaulichen. Kohorten wunderbarer Figuren waren in Greiz aufgetaucht, hatten sich mit etlichen der wendigeren Einheimischen zusammengetan und hielten nun wichtige Fäden nicht nur fest in ihren Händen, sondern übten sich darin,