Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895935
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im jammernden Diminuendo eines wohl tief in seinem Inneren rumorenden Verzagens, nur von nun häufiger auftretenden und immer umstandsloser formulierten Erleichterungsrülpsern kaum unterbrochen, trug er vor, daß die erste Million aus seiner Sicht und überhaupt erfahrungsgemäß die am schwersten zu erringende sei, und ließ doch, wie zum ganz großen Trotz oder gerade ausgehend von dieser Lehre, kaum etwas unversucht, sich persönlich als Experten und Praktiker der höheren Industriewelt und der fortgeschrittenen Kommerzkunde in Position zu setzen.

      Das Schauspiel zog sich hin, und mit der Zeit kapierten wir, daß die beiden Belästigten, die in diesem Schwafelgewitter aufs manierlichste eisenhart Contenance bewahrten, als Touristen aus der seit Herbst 1989 offen stehenden DDR unterwegs waren. Sie nahmen ihr Abendessen zu sich, tranken langsam ihre Biere, und manchmal nickten sie dem Störenfried knapp zu. Ihn komplett zu ignorieren, wäre wohl zu anstrengend gewesen, so dränglerisch artikulierte er seine Ansprache.

      Die für dieses idyllische Gasthaus eh untypische Szenerie erfuhr zusätzlich Kontur dadurch, daß Hausherr Wilhelm Bangemann seinerseits aufs dezenteste und unter Wahrung strikter Etikettefinessen, jedoch in schwerlich zu verkennender Distanziertheit ahnen ließ, daß auch aus seiner Sicht auf Anwesenheit und Mitteilungen dieses Dummpfiffikus geschissen war. Jener ermattete zwar zunehmend, raffte sich jedoch immer wieder, zwischen Gott sei Dank länger werdenden Pausen, zu appellhaft hervorgekeuchten Präzisierungen auf: »Und wenn’s dann mit dem Bißness läuft, dann läuft alles andere auch. Weiber und soo …!« Weiber ausgesprochen »Weiwa«.

      In diesem Moment wurde mir klar, warum mich dieses unwürdige Gebrabbel so ungut einnahm und nervte. Ich kenne, zufällig über Bande und hauptsächlich vom Weggucken, einen Kretin, einen zu allem weiteren Unheil auch noch stark pornographisch durchsauten, knalldummen halb Alt-, halb Neunazi und Kleinunternehmer, von dem so gut wie niemals irgend jemand irgend etwas wissen will, der aber seine Mitmenschen fast pausenlos mit den unappetitlichst würdelosen und zuverlässig stets stockmisanthropischen Obszönitäten optimal belästigt; ein Auswurf allerverdrecktester Hölle. Und aus dessen Sabbermaul grunzt auch allzuoft das Appellwort »Weiwa«, an dessen böswillig-hormonstrotzenden Aufruf sich dann sofort und unvermeidlich endlos schlimmster Hirndreck reiht.

      So wüst trieb es unser Idiot nun zum Glück nicht. Und da sein Kampf gegen das Bier ihn zunehmend erschöpfte, erlahmte irgendwann sein Redeschwall vollends. Seine gequälte Physis hatte wohl sicherheitshalber, im gewagt knapp limitierten Notfallmodus, das sie so fahrlässig regierende Spatzenhirn heruntergefahren. Mit letzter Kraft, körpersprachlich nun eindeutig vom zuvor beschworenen Ideal des Adlerflugs zum eher hühnerhaften Kratz- und Schlurfgang verkommen, und ohne weitere Umstände trollte er sich in sein Pensionszimmer.

      Wir hörten nun von Herrn Bangemann, daß der Mann als frisch installiertes Nachwuchsmitglied einer in den Heidedörfern ambulant tätigen Buchklubwerberkolonne einquartiert war. Sein Weggang eröffnete Gelegenheit, mit den beiden Herren zusammenzusitzen, und wir erfuhren, daß sie, aus dem Ostthüringischen, aus der Stadt Greiz kommend, den ganzen Weg herbeigeradelt waren. Bei kalt-regnerischem Wetter, quer durch halb Deutschland, waren sie, beide Leser der Bücher Arno Schmidts, schnurstracks nach Bargfeld gefahren, um hier der Arno Schmidt Stiftung samt der dort museal gepflegten Lebenssphäre des 1979 verstorbenen Dichters ihre Aufwartung zu machen.

      Die Herren aus der damals hierzulande gerne noch »Zone« genannten Welt erzählten von zu Hause und sprachen, außer über ihre Schmidt-Lektüre, auch über ihr Interesse an anderen aktuellen Kulturgütern der alten Bundesrepublik, dem sie nun aktiver nachgehen wollten. Bestens kannten sie sich in den Künsten der Autoren- und Bildsatirikergruppe Neue Frankfurter Schule aus, sie sprachen über ihr Nachholbedürfnis nach Auftritten westlicher Rock- und Jazzmusiker, hatten namhafte Buchhandlungen und Antiquariate auf ihrem Reiseplan und spezielle Museen. Tüchtig wollten sie sich umsehen, auch hier vor Ort erfahren, wie man die Angelegenheiten des Dichters Schmidt ins rechte Licht stellt – denn Michael Rudolf, einer der beiden, hegte damals schon konkrete Absichten, einen Literaturverlag zu gründen.

      In welchen Ausmaßen und um wie viele Ecken herum prophetisch sich der besoffene Schwafelsack – fast wie ein von Charles Dickens in der Weihnachtsnacht zusätzlich ins Rennen geschickter Menetekelgeist, als Mensch gewordene Vorwegnahme kommender Zumutungen oder wie ein alles Böse und Blöde der Welt inniglich beschwörendes Marterlbild aus der Hand eines deliranten Herrgottsschnitzers – an eine zentrale Biegung des Lebenswegs Michael Rudolfs postiert hatte, konnte damals niemand ahnen.

      WISSENSWERTES ÜBER GREIZ – Michael Rudolf erzählte mir noch am gleichen Abend von einem wunderschönen Museum voller feinster Kunstschätze in Greiz. Dort, im Sommerpalais, so erfuhr ich, seien Raritäten und Schönheiten sonder Zahl zu finden: eine außergewöhnliche Bibliothek, die großen alten Enzyklopädien, wunderlich Illustriertes, erstrangige Graphik des 18. Jahrhunderts, die Hinterlassenschaften einer englischen Prinzessin, die auch selbst als Bildende Künstlerin Gescheites vollbracht habe, und die Nachlässe ihrer in Thüringen angeheirateten Fürstenverwandtschaft, Künstlerkarikaturen, frühe Bildsatiren, Wertvolles von William Hogarth, Daniel Chodowiecki, Henry William Bunbury, Thomas Rowlandson, James Gillray und von Honoré Daumier, dazu deutsche kritisch-komische Graphik aus dem frühen 20. Jahrhundert und, als Clou, die amtliche, große nationale Karikaturensammlung der DDR, untergebracht in einer als »Satiricum« durchaus populären Abteilung des Hauses, namens derer man bisher die prima Greizer Karikatur-Biennalen gefeiert habe. Und im Sommerpalais erwarte man alsbald den neuen Direktor, Gotthard Brandler aus Berlin, unter anderem ein Experte für die Geschichte und Theorie der Baukunst, für die Geschichte der Presse- und Künstlerkarikatur und, Achtung: Herausgeber einer demnächst erscheinenden, riesigen, kritischhistorischen, groß kommentierten Reprintausgabe des Journals London und Paris des großen Verlegers und Druckers Friedrich Justin Bertuch aus dem Weimar der Goethezeit – ich wisse doch sicher Bescheid … Brandler habe ja in der Schriftenreihe Greizer Studien schon ganz wunderbar auf die Früchte seiner Bertuch- und London und Paris-Forschungen hingewiesen. Da sei Vorfreude angezeigt.

      Die Blamage war so komplett wie meine Überraschtheit. Ich nämlich wußte nicht im geringsten Bescheid, ziemlich peinlich, da ich zuvor schwer mit meinem Interesse an kritischkomischer Bildender Kunst renommiert hatte. Ich mußte es dem freundlich nachsichtigen Herrn Rudolf gestehen, nein, Greiz östlich von Plauen im thüringischen Vogtland, das Fürstenhaus Reuß und seine Sammlungen, Sommerpalais, Satiricum, Biennalen, Greizer Studien – von Bertuchs Zeitschriften abgesehen, hatte ich nie von all dem gehört. Kein Schimmer. Verschwommen dümpelte nur die Parole »Greiz, Schleiz, Lobenstein …« in meinem Hinterkopf herum. Michael Rudolf behob auch diesen Mangel an Übersicht im Handumdrehen.

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       Michael Rudolf, Michael Riedel, Bargfeld, 1990.

      Er und sein Freund Michael Riedel hatten mir in zwei, drei Stunden von mehr Wissenswertem in ihrem Land erzählt, als ich in den knapp vier Lebensjahrzehnten zuvor insgesamt erfahren hatte. Und dann noch zu hören, daß Michael die Gründung eines Verlages plante, in dem er Literatur des 18. Jahrhunderts, Satiren, allerhand Rares und Extravagantes ins Licht setzen wollte, dazu Aktuelles aus der sich damals spannend und vielversprechend erweiternden künstlerischen Umgebung der Neuen Frankfurter Schule, machte mir klar, daß dieser sehr sympathische Herr alsbald Erfreuliches ins Werk setzen werde.

      MEKKA SOMMERPALAIS – Michael Rudolf hatte mich in der folgenden Zeit über das, was sich im Greizer Museum Sommerpalais tat, freundlich auf dem laufenden gehalten. Als Ende 1992 Direktor Brandler daranging, die Grundlinien seiner Ausstellungspolitik neu zu fassen, und zu Besprechungen darüber Kollegen aus Ost- und Westdeutschland nach Greiz einlud, hatte Michel dafür gesorgt, daß ich mit dabei war. Es war die schiere Freude, dieses legendenträchtige Museum und Gotthard Brandler, eine so gescheite wie liebenswerte Lichtgestalt der Branche, kennenzulernen. Michel hatte nicht zu viel versprochen.

      Eines der Ergebnisse dieser Tagung war, daß infolge der Karikatur-Biennalen künftig groß aufgezogene Ausstellungen im dreijährigen Turnus stattfinden sollten, und Gotthard Brandler und ich vereinbarten,