Da es etwa bei der Vernissage der ersten Nach-Wende-Triennale im Greizer Sommerpalais, im Jahr 1994, noch spürbar mächtige Verwerfungen zwischen den Ost-Künstlern und ihrer neuen Konkurrenz aus dem Westen gegeben hatte und Karikaturkultur-Chefideologe Kretzschmar per flammendem Donnerwort im Neuen Deutschland ein gutes Schöppchen Öl ins Feuer dieser so künstlichen wie sowieso unnötigen Erregung gegossen hatte, erfuhr Direktor Brandlers Coup, »den Alten« zur Absegnung der musealen Würdigung der Künstlerfreundschaft Bernstein/Bofinger sprechen zu lassen, schon im Vorfeld der Ereignisse viel vorfreudige Anerkennung. Auch Michel Rudolf war sich sicher: »So soll’s sein. Brigadier Kretzschmar, genau. Der wird reinhauen, da bleibt kein Auge trocken. Klasse!«
Harald Kretzschmar war schon am Vorabend der Eröffnung angereist, und schnell war klar, daß allein schon der Umstand, daß man ihn als Hagiographen des Künstlerduos Bernstein/Bofinger bestallt hatte, ihn restlos vom somit auch sauber eingelösten hohen Anspruch des Unternehmens überzeugt hatte.
Herr Kretzschmar zeigte sich, wie Gotthard Brandler und Michael Rudolf es hatten kommen sehen, beim vorabendlich präludierenden Umtrunk schon in aufgeräumtester Stimmung und übernahm obligatorisch und zu Recht eine Art Generalpräsidentschaft. Selbst Yvonne Kuschels und meine Anwesenheit juckte ihn nicht im geringsten. Die Beteiligung der Künstlerin an der 1994er Triennale in Greiz und meine Mitarbeit an dieser Ausstellung zählten damals zu den hauptsächlichen Anlässen seiner gewaltigen Erregung.
Greiz, Gartenweg, 1994.
Und nun, nein, für die kommende Vernissage brauchte man sich erst mal gar nicht auf ein Kretzschmarsches Massaker einzustellen, denn derart bombig gelaunt, fidel und freundlich zu allen, erzählte der Karikaturistenpapst schönste Geschichten aus der Welt der zum Komischen geneigten Bildenden Kunst – und keineswegs nur solche von gestern. Michel freute sich: »Tipptopp, der Oberchef ist saugut drauf, bestes Vernissagenwetter!«, und beim späten Abendspaziergang durch den Schloßpark, den früheren Leninpark, überlegten wir schon, wie gediegen der Doyen doch eigentlich auch mal in Programm des Weissen Steins Großes und Wertvolles bewirken könnte.
Am Morgen der Vernissage lag tatsächlich froh stimmendes Sommerlicht über Greiz. Einzig meine damalige Verlobte war am Frühstückstisch mit unnötigem Gezänk und stabiler Zickigkeit gegenüber aus meiner Heimat angereisten Freunden aufgefallen – in der ganzen Unangemessenheit ihres Affekts vielleicht ein Wetterleuchten kommender Verdunkelung. Die Eröffnung der Ausstellung verlief dann noch beseligender als je erhofft. Harald Kretzschmar schwelgte und strahlte, lobte das Zusammengehen von Ost und West unter dem Dach des Sommerpalais als ideales Modell innigsten deutsch-deutschen Einigwerdens überhaupt und machte gar klar, daß etwaige kulturpolitische und auch vielleicht mal leicht persönliche Verwerfungen nun längst wie von der Weißen Elster weggespült und obsolet seien wie Pulverqualm vergessener Schlachten. Selten schwappten im Sommerpalais güldene Wogen gemütlichsten Einigseins derart hoch. F. W. Bernstein und Bofinger strahlten, Gotthard Brandler und ich griffen erleichtert zu einem Arzneigläschen Jägermeister, denn alles war prima, und sogar meine Braut hatte sich inzwischen entspannt. Der Geist des Dr. Kohlschen Donnerworts von den demnächst hier blühenden Landschaften schwadete wie ein hier schon mustergültig eingelöstes Hohes Lied wenn schon nicht über ganz Greiz, so doch gewiß über den Köpfen der im Festsaal des Sommerpalais Versammelten. Beseligt konnte man zum formellen Mittagessen im Hotel Ambiente schreiten.
Dort dann schlug das deutsch-deutsche Verbrüderungspendel voll zurück, und zwar einzig und allein knallhart auf Michael Rudolf. Irgendwann während des Essens begann mein zum erstenmal in Greiz weilender Freund G., ein sonst ehrlich-lieber Mensch, der üblicherweise von Herzen gerne jeden nach jeder Fasson glücklich werden sieht, den und dessen Frau mein Frl. Braut morgens im Hotel so grundlos zänkisch genervt hatte, mit Michel einen zwar halblustig aufgezogenen, aber insgesamt zähkrampfigen Disput über »Wir im Westen – Ihr im Osten«, in dem er, deutlich im Sinne eines burschenschaftlichsportlichen Schwanzvergleichs, Michel wissen ließ, daß die DDR und der DDRerer von vornherein ideologisch, ökonomisch, alltagskulturell und vor allem sowieso und überhaupt nur in die Hosen geschissen hätten und daß es so kein Wunder sei, daß es nun so gekommen sei, wie man’s hier und überall zu sehen bekäme: Wir Westler müssen jetzt euren Dreck wegräumen und dann schnell aufbauen, was ihr alles verpennt habt, weil ihr nicht auf uns gehört habt. Michel zog in aller Freundlichkeit sämtliche Register guten Willens und sachlicher Darlegung, um dem Mahner zu zeigen, daß er, Michel, nie und nimmer ein Begeisterter der Sache der SED war und daß er seinerzeit schon gewußt und vor allem sehr gehofft habe, daß der komplette Schrott baldigst in sich zusammenrutsche und Ruhe gebe …
Es half nichts, er mußte sich die volle Ladung »Wir gut – ihr doof – ist aber nicht persönlich gemeint« vorlöffeln lassen und blieb dabei bis zur bitteren Neige nachsichtig, zeigte sich sachte bemüht um unaufdringliche Richtigstellung und steckte die Wirkungslosigkeit dieses Mühens mit einer Langmut weg, die jeden Buddhisten vor Neid kuttengelb hätte anlaufen lassen. Zumal Michel sowieso merkte, daß sein Gegenüber eh nur bluffte, sich nämlich eigentlich noch nie ernstlich mit seinem Würgerthema beschäftigt hatte.
Als es irgendwann gut war und sich nach dem Mittagessen die Gäste in alle Welt verkrümelt hatten, segnete Michel das just Erfahrene ganz auf seine Art ab: »Das hat er doch gar nicht fies gemeint – oder persönlich; und das deutsch-deutsche Backe-Kuchen, ach komm, da wird sowieso noch allerhand Rauch aufsteigen!«
Michael Rudolf, Gerhard Henschel, Kaiserslautern, 1992.
Heiko Arntz, Eugen Egner, Dieter Steinmann, Achim Frenz, Kriki, Frankfurter Buchmesse, 1994.
WANN I AMAL STIRB … – Es war auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 1991 oder ’92. Beim Herumlaufen war mir eine Koje aufgefallen, in der zwei sehr sympathische Personen saßen, umgeben von ausschließlich allerschönsten, feinen Büchern. Die beiden firmierten hier gemeinsam als die beiden Verlage Edition Plasma und Edition Sirene (von Kennern »Spedition Irene« genannt), niedergelassen in Fürstenwalde an der Spree, und hatten lauter Wunderwerke zu bieten: Bücher von Joris-Karl Huysmans und Albert Girauds Pierrot Lunaire, rare Texte des frühen Surrealismus, Johannes Ilmari Auerbachs Der Selbstmörder-Wettbewerb, Julien Gracqs Auf Schloß Argol, Pétrus Borels Passerau der Student, von Louis Flamel unter anderem Die Gotik der Schändung – Die Romantik der Schleier und allerhand aus der französischen Dichtergruppe Oulipo: Georges Perec, Eugen Helmlé, Harry Mathews.
Nachdem etliche Freunde und Kollegen mich im Maß meiner Freude an diesen Schätzen bestätigt hatten, schleppte ich auch Michael Rudolf aus seiner Weissen-Stein-Bude weg, hin zu dieser kleinen Wunderkammer. Alles dort, ausnahmslos, gefiel ihm sehr wohl. Die ausgefinkelt durchdachten Ausstattungen, von Buch zu Buch so gut wie immer höchst plausibel unterschiedlich inszeniert, die große Feinheit der nicht selten eigentlich einfachen, aber findig ausgesuchten Papiere, die perfekten Formate und meisterlichen Satzmuster bei souveränstem Verzicht auf Mätzchen beeindruckten ihn tief.
Als wir uns später zu einem Imbiß irgendwohin setzten und die paar Bücher auf dem Tisch ausbreiteten, die wir gerade gekauft hatten, blieb Michel an einem kleineren Büchlein länger hängen: Der Obstgarten – Erinnerungen an Georges Perec von Harry Mathews aus dem Jahr 1982, dem Todesjahr des großen französischen Dichters, nun übersetzt von Uli Becker, herausgegeben von Jürgen Ritte.
Auf einunddreißig Seiten stehen etliche Dutzend kurze und teils kürzeste