Das noch: Als ich am Vorabend des Tagungsbeginns abends im Stockdunkeln nach Greiz gefahren kam, hatte ich vom letzten Dorf vor Greiz aus Michel angerufen, der gemeinsam mit anderen Tagungsteilnehmern schon bei Ente, Knödeln, Rotkraut und Bier saß. Er beschrieb mir das letzte Stück Weg haarklein und erbot sich, mich in Greiz an einem markanten Treffpunkt zu empfangen; die Stadt zeige sich wegen Renovierung derzeit wenig übersichtlich. Eine halbe Stunde später traf ich an der Ecke Bruno-Bergner-Straße/Carolinenstraße ein, gegenüber der Einmündung des Gartenwegs, wo Michel und seine Frau damals wohnten. Michel stand, in dünner Kleidung, die Schultern hochgezogen, im Schein einer Straßenlaterne, winkte und nahm mich in Empfang. Außer ihm war trotz des frühen Abends weit und breit kaum ein Mensch zu sehen. Es war bitterkalt, die Luft war voller Braunkohleheizungsgeruch, und die, verglichen mit der Straßenbeleuchtung im Westen, eher sparsame und farblich anders getönte öffentliche Beleuchtung setzte mir die Kulisse in eine fremdartige, jedoch angenehm merkwürdige Stimmung. Ich fühlte mich sehr wohl.
Michel geleitete mich, vorbei an rätselhaften Baustellen und über labyrinthische Umleitungen, zur Parkgasse, wo mir im Krug zum grünen Kranze ein Zimmer reserviert worden war. Vor dem Gasthof zeigte er ins Dunkle hinterm Haus und sagte: »Dort gleich ist der Park mit dem Sommerpalais, du wirst staunen.« Dann ging’s zum Ort des ersten Beisammenseins der Tagungsgäste im Restaurant Am Goethepark. Als einzigen der Versammelten kannte ich bisher F. W. Bernstein, denn der zufällig am gleichen Tag dort ebenfalls erwartete Zeichner Steffen Haas aus München hatte sich verspätet. Bernstein und Michel machten mich mit Gotthard Brandler bekannt. Nachdem auch ich ein eins a Stück Ente niedergemacht hatte – ich werde bis heute den Verdacht nicht los, daß es sich in Wirklichkeit um den Schenkel einer Ente-Truthahn-Kreuzung handelte, mit der ein vogtländisches Geflügelkollektiv einst angetreten war, um auf Zucht- und Planübererfüllungsolympiaden sämtlicher Bruderländer Serien erster Preise abzustauben –, nahm dieses Konferenzpräludium herzerwärmende Formen eines fidelen Kameradschaftsabends an. Michel informierte mich über Herkommen und Bedeutung der anwesenden Ex-DDR-Künstler und -Kulturbetriebsleute. Und er sagte wortwörtlich: »Ja, du wirst es sehen, hier in Greiz ist’s schön!«
MICHELS TRAUMSCHLOSS – Während dieser Tagung bekam ich ein Exemplar des Bandes 1 der Taschenbuchreihe des Verlages Weisser Stein geschenkt, die 1991 erschienene historische Studie Schloß Liebau und seine Besitzer von Michael Rudolf. Dieses kleine Bändchen hat – über seinen hohen regionalhistorischen Wert hinaus – seine ganz eigene Geschichte. Es steht für eine lebenslange Herzensangelegenheit Michels, und es rangiert sehr zu Recht am Beginn jener Reihe, die das Rückgrat des Verlagsprogrammes ausmachte. Michel war als Kind mit seinen Großeltern oft am Schloß Liebau nahe Greiz und in dessen Umgebung spazierengegangen und hatte sich in dessen romantischbildschöne Kulisse verliebt. Phantasien seiner Kindheit verband er fortan mit der Ruine und mit dem wenigen, das er über deren Geschichte wußte. Später beschaffte er sich historische Literatur, und als er seine Frau Ina kennenlernte, waren die beiden häufig dort und teilten sich fortan Michels Liebhaberei für das Gemäuer. Sie nahmen sich vor, wenn sie mal zu Geld kommen sollten, vielleicht in der Lotterie einen Treffer hätten, die Ruine zu kaufen, sie anständig nach denkmalschützerischen Prinzipien herrichten zu lassen, um dann eventuell ein kleines Restaurant darin zu eröffnen. Sie dachten sich Speisen aus, die dort zu haben sein sollten, und stellten sich vor, ihre Tochter Eva könnte dereinst dort arbeiten. In den achtziger Jahren ging Michel daran, zunehmend sachlich und sorgfältig nach historischem Material zur Geschichte des Schlosses, zu seinen Besitzern und deren Umgebung zu suchen. Er fuhr zu den zuständigen Archiven und Kirchenämtern, arbeitete sich in die Methoden der Historiker ein und legte sich den Plan zu einem Buch über Liebau zurecht.
1990 hatte er seine Studie so weit abgerundet, sogar Zeichnungen zur Bebilderung angefertigt, und nun wollte er sie veröffentlichen. 1991 gründete er seinen Verlag, und sein Schloß-Liebau-Buch erschien, wie erwähnt, als die Nummer 1 der Broschuren. Große Freude.
Ernst Volland, Harald Kretzschmar, Michael Rudolf, Andreas Prüstel, Werner Tammen, Klaus Vonderwerth, Dieter Steinmann, Rainer Hachfeld, F. W. Bernstein, Rainer Ehrt, Steffen Haas, Gotthard Brandler, Greiz, vor dem »Krug zum grünen Kranze«, 1992.
Als er und Ina dann die Pakete aus der Druckerei geliefert bekamen, waren Enttäuschung und Ärger groß: Der von Michel entworfene, bei der Druckerei in dunkelblauer Farbe bestellte Umschlag des Buches war grandios verkehrt gedruckt. Statt in der vielsagenden Farbe Blau zeigte sich das Büchlein in bleichem Weiß, mit dunkelgrauem Bild und ebensolcher Schrift – eine Farbigkeit so öd wie die Wände einer alten Eier-Butter-Käse-Milch-Handlung.
Später, als mal ein paar Mark übrig waren, ließ Michel sich von einer Druckerei ein paar wenige Exemplare im ursprünglich gewünschten Dunkelblau herstellen; für sich und die Seinen.
FINSTERE GESCHÄFTE – Dank Michels Vermittlung hinsichtlich der 1992er Tagung war ich 1993 vom Direktor des Museums Sommerpalais eingeladen worden, im Beirat zur Organisation der für Sommer 1994 geplanten ersten Greizer Triennale mitzuarbeiten. Als Thema der Ausstellung war vorgesehen, wichtige Beispiele der aktuellen Karikatur- und Cartoonkünste vorwiegend jüngerer Künstler des seit 1990 vereinten, neuen Gesamtdeutschland vorzuführen.
In diesen Beirat war Michel als so etwas wie ein teils ehrenamtlich mitarbeitender Gast, teils fürs Publizistische amtlich Engagierter bestallt, denn der Katalog zur entstehenden Schau sollte in seinem Verlag publiziert werden und so im Buchhandel allgemein lieferbar sein. Im Beirat arbeiteten Ausstellungsleute aus Ost und West zusammen; wie sich bald herausstellte, unter ähnlich schief leuchtenden Sternen wie so viele andere Ost-West-Kooperationen jener Tage. Ein Kollege aus dem Westen hatte, weit über seinen ursprünglichen Auftrag hinaus, erstaunlich geschäftstüchtige Strategien zu seinen Gunsten ausgeheckt und schreckte gar vor Nötigungen nicht zurück, um seine kraß eigennützigen Vorhaben durchzuprügeln. Direktor Brandler wand sich angesichts dieser massiven Würgereien mehrfach in scharfen Magenkrämpfen, und Michel staunte auch nur so über derart einseitig-grobe Revierkampftreterei. Ein in der alten DDR sozialisiertes Mitglied des Beirats hingegen hatte in völlig anderer Ausprägung vergleichbarer Pflichtvergessenheit die Übersicht verloren, indem er sich partout nicht auf das Thema »Deutsche Karikaturen und Cartoons aus BRD-alt und BRD-neu« einzulassen vermochte und beständig darauf pochte, es sollten doch bitteschön bemalte Zimmertüren aus Kreisen Berliner Hausbesetzer und Cartoons des amerikanischen Comicgenies Robert Crumb gezeigt werden. Immerhin trug er zu guter Letzt einige mit Bildmotiven versehene Streichholzschachteln aus der Präsenteproduktion der Künstlergruppen »Renate« und »PGH Glühende Zukunft« bei. Einige Male saßen, in den Pausen langer Beiratstagungen, Gotthard Brandler, Michel Rudolf und ich im Café Lebensart und mühten uns, unter dem Druck solcher teils bösen, teils blöden Egoismen die Köpfe halbwegs hochzuhalten.
»Schloß Liebau«, Privatexemplar mit blauem Cover.
»Schloß Liebau«, Originalausgabe.
Diese erste Greizer Triennale haute dann schließlich ganz ordentlich hin, indem in zähem Zerren und Schieben die schlimmsten Eigennutz- und wirrsten Einzelgängerambitionen etwas gebremst und entschärft werden konnten. Michel aber, ähnlich wie Gotthard Brandler, hatte mit den ernüchternden Seiten der Erfahrungen aus diesen Gremien- und Schwitzkastenquälereien lange ungut zu tun, und er nahm diese Heimsuchung wohl als typisch maligne Standardsituation deutsch-deutschen Würgens und Strauchelns: Raffgier und plumper Egoismus aus dem Westen, dusseliges Auf-dem-Schlauch-Rumstehen als klischeegerechte Ostlerattitüde. Schlimme weitere Raubzüge in Richtung der Kassen des Sommerpalais in der Folgezeit sollten ihm, was den ersten Punkt angeht, alsbald drastisch recht geben.