Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895935
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Michel war begeistert. Er trat zu Gerd Haffmans, der sich mit Autoren unterhielt, faßte ihn leicht am Ärmel und sagte, auf die Besucherin weisend: »Herr Haffmans, diese Dame hier hätte ein Begehr …« Nun mußte halt der arme Gerd Haffmans ran, der anschließend ganz daddelig aus seinem schönen Anzug schaute. Denn das Ungeheuer war als Journalistin unterwegs und wollte dringlich zu einem Interview mit der Jungautorin Amanda Filipacchi vorgelassen werden, deren aktuell als leicht skandalös berüchtigter Roman Nackte Männer unter dem Hinweis »Der Roman einer Erotomanie – süß wie die Sünde selbst«, versehen mit dem Foto einer merkwürdig halbnackten Frau auf dem Umschlag, im Haffmans Verlag gerade auf deutsch erschienen war. Der Verleger wußte mit reichlich Mühe seine Autorin vor dem Schlimmsten zu bewahren und seufzte nach dem Weggang der in Bud-Spencer-Pose vor ihn hingetretenen Frau ernstlich geschlaucht: »Jetzt brauch’ ich was zu trinken.«

      Michael Rudolf, in seiner nicht zu überbietenden Milde, schloß das Ereignis mit den Worten ab: »Mademoiselle Filipacchi, da ahnen wir doch was, siehste, deswegen hat Madame es vorhin so eilig gehabt.«

      Ich habe Michael Rudolfs reiche Begabtheit mit Contenance immer sehr bewundert und komme, wenn ich an ihn denke, oft auf Eckhard Henscheids schön huldigende Worte über Ror Wolf: »Ein gentiler Herr«. Genau!

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      PILZKULTUR – Als Michael Rudolf daranging, für den Haffmans Verlag einen Band der Schriftenreihe Der Rabe – Magazin für jede Art von Literatur zusammenzutragen, fragte er mich, ob ich Sachdienliches beizutragen wüßte. Letale Pilzgerichte, fragwürdige Rezepte aus dem Pfälzerwald, derlei hätte ihn interessiert. Ich konnte überhaupt nicht dienen, erinnerte mich lediglich an einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, der früher bei der US-Luftwaffe in der Pfalz zu dienen hatte und stets allerhand Kurioses aus den Alltagsgeschäften des Militärs erzählen konnte. Jener hatte einmal von einem dienstlich zirkulierenden, als ziemlich »vertraulich« klassifizierten Handbuch berichtet, in dem Fotos verschiedener Formen echter »Atompilze« zum anschaulichen Vergleich versammelt waren, typische Rauchwolken, wie sie zum Himmel aufsteigen, nachdem die Bombe geplatzt ist. Man sieht solches auch, lieblich schön zu hymnischer Schlagermusik choreographiert, am Ende von Stanley Kubricks Filmgroteske Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben. Im besagten amtlichen Album der echten Bombenkerle sollte es laut meinem Gewährsmann in der Hauptsache darum gehen, eigene Atombombenrauchwolken von jenen des Feindes (in den siebziger Jahren noch eindeutig der Russe) unterscheiden zu können. Michel war von der Aussicht entzückt, dieses im Zivilen vermutlich einigermaßen okkult gehaltene Werk für seine Forschungen verwenden zu können. Unser Informant, leider damals schon länger außer Diensten, konnte dann leider weder ein Exemplar noch nähere Angaben zum Titel etc. besorgen. Wohl standen immer noch Umstände der beim Militär ja stets gerngesehenen Geheimhaltung einem leichten Zugriff sehr im Weg.

      Was Michel in diesem Zusammenhang auch sehr einleuchtete: Derselbe exmilitärische Gewährsmann hatte, in Vernachlässigung seiner geheimhalterischen Gelöbnisse und Pflichten, mit großem Amüsement herumerzählt, daß seitens der NATO ein feindseliges Näherrücken des Russen und seiner Mittäter unbedingt auch immer für die Weihnachtstage in Betracht käme. Und für eine derartige Gemeinheit des Russen hatten sich die Bedrohungstheoretiker im Pentagon und ihre Vasallen auf der Bonner Hardthöhe einen mindestens doppelten Grund ausbaldowert: 1. Die große Gottlosigkeit des multipel verblendeten Russen kennt keinerlei Respekt vor hohen christlichen Feiertagen. 2. An Weihnachten haben unsere Soldaten frei, sozusagen Urlaub, weilen zu Hause bei ihren Lieben und trinken Glühwein. In das deswegen weit klaffende Abwehrvakuum frevelhaft vorstoßen zu wollen, hatte man als regelrecht wesensmäßig für den Russen erkannt. Michel schlug sich auf die Schenkel, genau das hatte auch er immer schon geahnt, auf ebendiesem Niveau hatten ihm seine Ausbilder bei der Nationalen Volksarmee die Schwitzigkeit der Dauerspannungen zwischen Warschauer Pakt und NATO erklärt.

      Sehr erbaute ihn auch zu erfahren, daß man in Sachen Russenabwehr und -prophylaxe in meiner engeren Heimat gerne Nägel mit Köpfen machte. Als der Kalte Krieg nämlich so richtig schön am Brummen war, strotzte der Pfälzerwald nur so vor unterschiedlichsten Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte. Bunker, Depots, Giftgas- und Schnapslager, Ausweichhauptquartiere, Übungs-, Spiel- und Schießplätze usw., alles immer stattlich umzäunt, abgesperrt und eisern bewacht. Daß dieser ganze Krempel die gottlosen Aufklärungstrupps des Warschauer Pakts etwa so zwingend animierte wie ein sperrangelweit offen stehender Kuhstall jeden Mückenschwarm in weitem Umkreis, liegt ebenso auf der Hand wie der demgemäß hohe Grad an Alarmiertheit bei den Amerikanern, die, über die Verheißungen des Weihnachtsszenariums hinaus, pausenlos so taten, als erwarteten sie das Heranwalzen des Russen augenblicklich. Und um schon gegen das freche Auftreten etwaiger Russenvorhut, vielleicht etwa in Form touristisch getarnter Spione, immer optimal und völkerrechtlich wasserdicht gewappnet zu sein, hatten sich die Amerikaner eine gewaltig hinterfotzige Extravaganz ihres sowieso großzügig ausgelebten Beschilderungs- und Warn- oder Drohwahns ausgedacht: Im Pfälzerwald standen tatsächlich Schilder, auf denen in weißer, kyrillischer Schablonenschrift zu lesen war, daß auch der Russe hier nichts zu suchen und bei Zuwiderhandlung mit dem Äußersten zu rechnen habe; mit ernstlichem Gebrauch von Schußwaffen nämlich. Wäre der Russe gekommen, und hätte man ihn dann erwischt und erschossen, wäre somit klar gewesen: Er ist selbst dran schuld, er war ja gewarnt. Leider waren in den neunziger Jahren solche Schilder dann kaum mehr zu finden.

      Michel aber war allein vom Bericht über diese Beschilderungspenibilitäten der großen westlichen Schutzmacht höchst erbaut. Und er bewies als Zeitzeuge des weiteren Fortgangs der bilateralen mitteleuropäischen Abrüstungsorgien der Ära Gorbatschow kosmopolitischen Weitblick und die tolerant-sportliche Grandezza des entspannten Feingeistes, der, ganz ohne Ressentiment, jeglichem Etappensieger im dann erst mal vertagten Kampf der Systeme gleich frohen Tribut zu zollen vermag, wenn ihm der Lauf der Dinge recht gibt. Die Amerikaner und ihre westdeutschen Marionetten nämlich lagen mit ihrer Russenphobie, im weiteren globalhistorischen Maßstab besehen, zu Zeiten des Kalten Krieges gar nicht so verkehrt. Denn kaum hatten sie ihre Präsenz zum Beispiel in der Hinterpfalz augenfällig geschrumpft, marschierte dort tatsächlich umgehend und beeindruckend zahlreich der Russe in den neu eröffneten geostrategischen Freiraum ein. Und zwar in Gestalt der von Bundeskanzler Dr. Kohl listig herbeigelockten und hier bleibend angesiedelten großdeutschstämmigen Aussiedler von jenseits der Wolga etc.

      Michel erkannte den Zusammenhang augenblicklich und sagte zu diesen Entwicklungen nur: »Das hab’ ich kommen sehen, auf den Punkt. Pfeilgerade so hab’ ich den Russen kennengelernt«; und hatte trotzdem nicht die geringste Lust, mir wüste Geschichten vom Horror seiner Militärzeit bei der NVA zu erzählen: »Nee, laß mal, da gibt’s schönere Themen.«

      HERBERGSVATER MICHEL – Als ich einmal, nach einer mühseligen Autofahrt durch Winterwetter, in Greiz ankam, suchte ich als erstes Michel auf, damals in der Wohnung im Gartenweg. Er sah sofort, wie müde ich war, und sagte: »Du kriegst erst mal eine Stulle«, bereitete mir ein klassisch illustriertes Brot zu und etwas Warmes zu trinken. Fünf Minuten später fühlte ich mich wie nach vier Wochen guter Kur.

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      VERWERFUNGEN – Im Sommer 1995 hatten Gotthard Brandler und ich eine Ausstellung der Künstlerkollegen und -freunde F. W. Bernstein und Manfred Bofinger fürs Greizer Sommerpalais organisiert. Es war eine Freude, diese Schau vorzubereiten. Jürgen Brömmer hatte in seiner just gegründeten Brömmerschen Privatverlagsanstalt zu Mannheim zwei schöne Katalogheftchen aufgelegt, und Gotthard Brandler war, nach eingehenden Beratungen auch mit Michael Rudolf, auf die strategisch grandiose Idee gekommen, als Vernissagenfestredner keinen Geringeren zu bitten als »den Großen Vorsitzenden« Harald Kretzschmar. Dieser prominente Herr, seines Zeichens nicht nur selbst Zeichner, Karikaturist, Illustrator, Plastiker und Autor, wirkte nicht nur als Journalist, Mitarbeiter des Satiremagazins Eulenspiegel, Kunstkritiker und Hochschullehrer, sondern unter anderem als Vorsitzender der Zentralen Sektionsleitung Karikatur im Verband Bildender Künstler der DDR und hier unter anderem als Bannerträger der besonderen Beziehungen zu den Karikaturisten Bulgariens ab der ersten Stunde. Als wirklich kapitelfester, vermutlich weltweit bester Kenner auch noch der verstecktesten