Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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bekommen, ist dadurch möglicherweise korrumpiert worden – was weiß ich. Ich möchte da keinen Vorwurf machen, weil das ganz schnell gehen konnte, dass man in so eine Sache hineingerät, in die Fänge einer solchen Einrichtung, aus denen man nie wieder herauskommt.

      Welches Bild haben Sie heute im Nachhinein von der DDR?

      Ich sehe heute die DDR anders als früher. Der Staat DDR hat sich von einem Staat des Sozialismus, von den eigenen Idealen, immer mehr entfernt. Ist immer mehr zur Bürokratie und Diktatur gewandert. Die Parteidoktrin und die staatliche Hierarchie wurden immer straffer und ließen immer weniger Möglichkeiten zu. Meine Ideale, die ich ursprünglich hatte, sind immer mehr abgebröckelt. Heute staune ich über mich selber: „Mensch, wie du das so lange durchgestanden hast.“ Aber das war eben die Zeit damals. Man konnte nicht anders …

      Wie denken Sie mittlerweile über den Sozialismus, an den Sie ja einmal geglaubt haben?

      Vor ein paar Jahren wurde das Karl-Marx-Monument hier in Chemnitz eingehaust, das war eine Kunstaktion. Ich wurde gebeten, über meine Auffassung zu dem Monument und zur Gestaltung der Stadt zu sprechen. Ich hab’ dort in der Öffentlichkeit meine Meinung vertreten, nämlich dass Karl Marx doch eigentlich eine Lehre entwickelt hat, die den Kapitalismus in gewisser Weise bloßgestellt hat. Aber er hat diese Lehre nicht zu Ende gedacht. Er hat nicht gesagt, was nach dem Kapitalismus kommen soll. Das war eigentlich auch der Grund, weshalb die DDR nicht funktioniert hat. Das, was Lenin und andere aus der Lehre gemacht haben, war nicht das, was Marx eigentlich wollte. Schon das war der Grundstein für den Untergang des Sozialismus.

      Empfinden Sie ihr Leben in der DDR rückblickend als verlorene Zeit‘?

      Nein. Ich bin in der DDR aufgewachsen, hatte meine Familie dort, habe meine Ausbildung genossen. Ich habe nicht nur beruflich, sondern auch privat sehr viel gelernt. Ich bin meinen Idealen nachgegangen – obwohl das nicht immer gefragt war. Die DDR ist meine Heimat gewesen, und ich habe für die Menschen meiner Heimat gearbeitet. Trotzdem trauere ich der Vergangenheit nicht nach. Ich durfte nicht immer nur gute Erfahrungen machen. Aber die Zeit war damals so; und ich habe es ja auch einigermaßen gut überstanden. Ich bin trotzdem froh, dass es die DDR nicht mehr gibt. Es wäre fürchterlich, wenn es diesen Staat noch gäbe – wer weiß, was aus uns geworden wäre.

      Das Gespräch führte Steffi Kühnel

       1 Hellmut Opitz/Hermann Wille: Karl-Marx-Stadt, Leipzig 1974.

       2 http://www.chemnitz.de/chemnitz/de/stadt_chemnitz/stadtportrait/ stadtportrait_index.asp, 20.8.09

       3 Karl Joachim Beuchel: Die Stadt mit dem Monument, Chemnitz 2006.

       4 Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war von 1933-45 ein sechsmonatiger Arbeitsdienst, der dem Wehrdienst vorausging. Aufgrund der hohen Truppenverluste fand ab 1944 die militärische Grundausbildung direkt während des RAD statt.

       5 Die Architekten Karl Wilhelm Ochs (1896–1988) und Walter Henn (1912–2006) waren ab 1946 Professoren an der TH Dresden. Ochs wurde 1953 an die TU Berlin berufen; Henn ging im selben Jahr an die TU Braunschweig.

       6 Georg Funk (1901–1990) studierte Architektur in Dresden, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau von Chemnitz mit und wurde 1949 als Professor für Baurecht und Bauordnung an die TH Dresden berufen. Dort baute er das Institut für Städtebau auf.

       7 Die 1946 gegründete Sowjetische Aktiengesellschaft, ab 1954 Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut, förderte an verschiedenen Standorten in der DDR Uran für die sowjetische Atomindustrie. Ganze Städte und Dörfer mussten dafür weichen, die von der Wismut verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden wirken bis in die Gegenwart nach.

       8 Fritz Heckert gründete 1919 die Chemnitzer KPD. Das Wohngebiet ,Fritz Heckert‘ entstand seit 1974 und war das drittgrößte Plattenbaugebiet der DDR. Bis 1988 entstanden hier über 30.000 Wohnungen für 90.000 Bürger. Nach 1990 verließen viele Bewohner das Stadtviertel, so dass sich das Gebiet – ebenso wie zahlreiche andere Neubaugebiete der DDR – seit 1998 im ,Rückbau’ befindet.

       9 Die Behebung der Wohnungsnot und die Bekämpfung des ,Mietskasernenelends‘ (als Inbegriff des Kapitalismus) hatte in der DDR seit den 1960er Jahren Priorität. Seit den frühen 1970er Jahren wurde das Wohnungsbauprogramm intensiviert; der Schwerpunkt lag dabei auf Neubaugebieten.

       10 Hermann Henselmann (1905–1995) prägte maßgeblich den Städtebau der DDR der 1950er und 60er Jahre. Er war u.a. in Berlin am Entwurf der Stalinallee und des Hauses des Lehrers beteiligt. Bis 1972 stellvertretender Direktor des Instituts für Städtebau und Architektur der Bauakademie.

       11 Wolfgang Junker (1929–1990) war von 1963 bis 1989 Minister für Bauwesen in der DDR.

       12 Beuchel hat 1974 erneut geheiratet.

       13 Seit dem Amtsantritt Erich Honeckers 1971 wurden in einigen Städten der DDR – vor allem in Ostberlin – einzelne Altbaubestände aufwändig restauriert.

       14 ,Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen‘, von 1955 bis 1990 die Entsprechung westdeutscher DIN-Norm.

      Hans Modrow

      „Geschichte, an der ich teilhabe.“ - Hans Modrow, geboren 1928

      Ein lebensgeschichtliches Interview mit Hans Modrow? Der 80-jährige hat seine politischen Memoiren ,Ich wollte ein neues Deutschland‘ bereits 1998 verfasst. Nur widerstrebend erklärte er sich zu einem Gespräch bereit. Als Vorsitzender des Ältestenrates der LINKEN hat er einen vollen Terminkalender, möchte in der Gegenwart politisch wirken, anstatt ein weiteres Mal über sein Leben in der DDR zu berichten.

      An Modrow als einen Hoffnungsträger in der späten DDR kann ich mich selbst noch aus Diskussionen in meiner Familie während der ,Wende‘ erinnern. Schon vor 1989 galt er als Mann der Perestroika, als deutscher Gorbatschow. In der Revolutionszeit ersetze er die unglaubwürdige SED-Führung unter Egon Krenz und bildete eine ,Regierung der nationalen Verantwortung‘. Er suchte Kontakt zu Oppositionellen und machte Bürgerrechtler zu Ministern. Vor dem Interview bereitet mir diese Erinnerung Unbehagen, könnte sie doch eine fehlende Distanz zu meinem Gesprächspartner erzeugen – eine Distanz, die mir andererseits notwendig erscheint: Schließlich kam Modrow doch selbst aus dem tiefsten Inneren des SED-Regimes. Für seine Karriere in der DDR hatte er den Kontakt zu seiner Familie im Westen abgebrochen. Sein Weg führte über Funktionen in der FDJ, der Berliner SED-Leitung bis hin zum Zentralkomitee der SED. 1973 wurde er Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Dresden. Als der einflussreichste Lokalpolitiker im Bezirk übte er dabei gelegentlich auch Kritik an den Beschlüssen des Politbüros. Erst 1989 kehrte er wieder nach Berlin und ins Machtzentrum der DDR zurück: Er wurde ihr vorletzter Ministerpräsident.

      Aus dem Repräsentanten des untergegangenen Staates ist im vereinten Deutschland ein umstrittener Politiker geworden, der in der Bundesrepublik unter anderem wegen Beteiligung an Wahlfälschungen in der DDR verurteilt worden ist. Seit den ersten freien Wahlen der DDR im Frühjahr 1990 arbeitet Modrow in der linken Opposition, vertritt die Interessen der Ostdeutschen – so wie er sie versteht. Kritik an den Verhältnissen in der DDR begegnet er mit dem Hinweis, dass es auch heute noch Unrecht zu bekämpfen gelte.

      Als ich morgens Hans Modrows Wohnung in einem Plattenbau in Berlin-Mitte betrete, geht gerade der erste Gast des Tages. Modrow bittet mich in ein schlicht eingerichtetes Arbeitszimmer. Auf dem Tisch das ,Neue Deutschland‘, Stapel von Papieren und Büchern liegen vor überfüllten Bücherregalen. In einem hängt ein Wimpel mit dem 1989er-Slogan ,Keine Gewalt‘. Wir haben nur knapp zwei Stunden Zeit, und Modrow beginnt zu sprechen: anhaltend und ausdauernd, mit seiner bekannten heiseren Stimme. In der Erzählung nimmt mein Gesprächspartner die eigene Rolle stark zurück: Der ,Pflichtmensch‘ bindet sein Leben an sachliche Umstände. Am Ende bin ich doch überrascht, denn auch als ,Reformer‘ möchte Modrow nicht gesehen werden