Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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Ich bemerkte, dass mit einem Mal das Bild von Beria 9 in der großen Galerie der Politbüro-Mitglieder fehlte – aber keiner wusste eigentlich, was dahinter steckt. Im Mai 1953 empfanden wir in Moskau eine Unsicherheit – da waren Diebe, einem von uns wurde die Uhr geklaut. Dann redeten wir wieder mit den Komsomolzen, die wussten auch nichts, das gleiche Spiel. Wir kamen erst im August zurück nach Deutschland. Da war auch der Aufstand vom 17. Juni in der DDR schon wieder zwei Monate vorbei. Von den Verbrechen Stalins hörte ich erst drei Jahre später nach der Übermittlung durch Nikita Chruschtschow, mit den Gesprächen, die es danach gab. Da spielte für mich eine besondere Rolle Alfred ,Ali‘ Neumann, damals SED-Bezirkssekretär in Berlin. Er war vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet, ging dann aber nach Spanien. Er erzählte uns seine Geschichte und sagte: „Ich bin nicht nur nach Spanien gegangen, um dort im Bürgerkrieg zu kämpfen. Ich bin auch nach Spanien gegangen, um nicht nach Sibirien zu müssen.“ Da spürte man zum ersten Mal, was alles tabu gewesen war.

      Rückblickend gefragt: Ist in der Kriegsgefangenschaft, in der Antifa-Schule der Berufspolitiker Modrow‘ geboren worden – oder widerstrebt Ihnen diese Formulierung?

      Die widerstrebt mir insofern, weil ich selbst eine ganz andere Vorstellung von meiner beruflichen Zukunft hatte. Da spielt sogar die Frau von Walter Ulbricht eine Rolle. Lotte Ulbricht lernte ich im April 1949 beim Jungaktivistenkongress in Erfurt kennen. Der offizielle Teil war zu Ende, wir saßen am Tisch, da kam sie dazu und sagte: „War ganz interessant, was du vorher gesagt hast, woher kommst du denn?“ – Hab’ ich gesagt: „Ich komm’ aus dem LEW, und davor war ich auf der Antifa-Schule“. Da sagte sie zu mir: „Weißt du, du musst studieren, du musst Diplomingenieur werden. Wir brauchen Werkleiter, die politisch gebildet, aber auch in der Lage sind, große Werke zu leiten.“ Also Modrow war danach überzeugt: Er muss Werkleiter werden! – Dann kam aber 1950 im Sommer die nächste Kaderaussprache mit Erich Honecker. 10 Erich Honecker sagte, was ich mein Leben nicht vergessen werde: „Es gibt Leute, die sorgen dafür, dass andere Leute studieren. Und es gibt welche, die selbst studieren. Du gehörst zu denen, die dafür sorgen, dass andere studieren!“ (lacht). Damit wiederum war völlig klar: Dein Weg bleibt in der FDJ. Allerdings war ich damals auch noch mit sowjetischen Jugendoffizieren in Kontakt. Und einer sagte dann zu mir: „Vergiss eines nicht, du brauchst neben der politischen Ausbildung eine fachliche Ausbildung. Sonst musst du denen immer dankbar sein, die dich auf dem Stuhl lassen, auf dem du sitzt.“ – Also habe ich nicht nur mein Fernstudium an der Parteihochschule der SED gemacht und mit einem Diplom für Gesellschaftswissenschaften abgeschlossen, sondern an der Hochschule für Ökonomie auch mein Examen als Volkswirt. Mit der festen Überzeugung, dann auch einen Betrieb leiten zu können. Und ich habe dann ja auch noch ein gutes halbes Jahr in der Planung des größten Ostberliner Betriebes gearbeitet. Meine Haltung war immer: Du brauchst eine Grundlage, eine bestimmte Kompetenz – auch wenn du in der Politik bist und bleibst. Es macht keinen Sinn, da als ,Diplompolitiker‘ rumzulaufen.

      „… das Etikett ,Reformer‘“

      Sie arbeiteten seit 1953 in der SED in Berlin als Parteifunktionär. Dann gingen Sie 1973 nach Dresden, als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung. Wie sah dort Ihr Alltag aus?

      Nun, zunächst einmal prägte den Alltag in Dresden einfach Folgendes: In der DDR fiel in den einzelnen Bezirken eigentlich alles und jedes in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Ersten Sekretärs. Das war eine Struktur, die nach meiner Meinung die Effizienz der Gesellschaft immer eingeschränkt hat. Ich war der Auffassung, dass der Staat eine größere Verantwortung haben muss, weil man aus der Partei heraus keine Wirtschaft führen kann. Meine Haltung führte ja auch zu einem Streit am 18. Oktober 1989, als es um die Ablösung von Honecker ging. Stoph 11 hat sich dann mit den ersten Bezirkssekretären und Mitgliedern des Politbüros beraten. Dort habe ich gesagt, ich hielte es für falsch, wenn auf Egon Krenz 12 als Parteifunktionär nun wieder auch die staatliche Leitung übergeht. 13 Das wird mir bis heute so ausgelegt, als ob ich unbedingt Generalsekretär der SED hätte werden wollen. Denn als ich das als Problem aufwarf, fragte der damalige Gewerkschaftsvorsitzende Harry Tisch: 14 „Und welche Funktion willst du haben?“ Danach herrschte in dem ganzen Kreis Schweigen. Keiner diskutierte, alle dachten stillschweigend: „Aha, der Modrow will in diesen Machtkreis rein!“ – was mich damals überhaupt nicht bewegt hat.

      In meiner Jugend galten Sie als Reformer und Hoffnungsträger. Haben Sie sich auch selber so empfunden?

      Nein, habe ich nicht und sehe ich auch heute nicht so. Wie andere mich sehen, müssen die miteinander ausmachen. Die Sache mit dem ,Reformer‘ begann ja so: Die KPdSU holte den Gesandten Valentin Koptelzew zurück nach Moskau. Vor seiner Abreise kam er noch mal nach Dresden und sagte: „Wir bleiben in Kontakt“. Und Koptelzew wurde dann von einem Korrespondenten des Spiegel gefragt: „Wen könnte sich Gorbatschow als Nachfolger von Honecker in der SED vorstellen?“ Und der sagte: „Ich glaube Hans Modrow.“ Das war 1986 der Beginn dieser Debatte um Modrow. Da ging es erstmal gar nicht um einen ,Reformer‘, sondern um Spekulationen, wer wird oder könnte der Nachfolger von Honecker werden.

      Sie gehörten damals nicht dem Politbüro an, als die Nachfolge Honeckers diskutiert wurde.

      Ich war der Einzige, der von außerhalb des Politbüros ins Spiel kam. Ich kam als absoluter Außenseiter in die Debatte. Und es gab ja diese Philosophie: Der Gorbatschow will Reformen, und der Honecker will keine. Und ein Mann, den Gorbatschow empfiehlt, will doch vielleicht auch Reformen. Und da musste man ja für einen solchen ,Hoffnungsträger‘ noch irgendwie eine Art Beschreibung im Westen haben – und da passte dann am besten das Etikett ,Reformer‘. Aber ich will sehr deutlich sagen: Spätestens ab Ende 1987 war ich überhaupt nicht mehr der Überzeugung, dass das, was Gorbatschow macht, auch gut für die DDR wäre.

      Was waren Ihre Überlegungen für die DDR im Gegensatz zu Gorbatschow?

      Meine Überlegung war erstens: Ja, wir brauchen in der DDR eine Umgestaltung. Die konnte aber nicht dem Modell Gorbatschows folgen. Einfach deshalb nicht, weil das Maß der Sowjetunion und das Maß der DDR nicht zusammenpassten. Wenn der Wirtschaftsminister Günter Mittag alle seine Generaldirektoren zusammenholen wollte, dann drückte er früh aufs Telefon und am Abend saßen die alle bei ihm am Tisch. Und wenn das einem in Moskau einfallen würde, dann brauchten die eine Woche (lacht). Das heißt, man kann die Politik eines Landes, das in anderen Maßstäben zu regieren ist, nicht einfach auf ein kleines Ländle übertragen. Und zweitens: Die Dinge, die Gorbatschow vorschwebten, schienen mir für die DDR überhaupt nicht die Frage zu sein. Mein Problem war vielmehr: Wir sind in der Wirtschaft der DDR an einem Punkt, an dem wir die Eigenständigkeit der Betriebe in einem Maß einschränken, dass nichts mehr funktioniert. Wo die Zentralisierung ein Ausmaß angenommen hat, dass es nicht mehr läuft. Wo das Wort vom Volkseigenen Betrieb‘ keinen Inhalt mehr besitzt. Ich habe das dann 1988 auf einer ZK-Tagung auch im Plenum gesagt: Wir sagen ,Volkseigener Betrieb‘, aber wir füllen diesen Begriff nicht mehr aus. Und damit war auch klar, dass ich gegen Honecker stand.

      Ihnen ging es also weniger um Gorbatschows Perestroika als um wirtschaftspolitische Reformen, wie sie schon Walter Ulbricht in den 1960er Jahren versucht hatte?

      Zu den 1960er Jahren sehe ich eine eindeutige Beziehung. Durch einen Aufenthalt in Moskau wusste ich auch, wie in der Sowjetunion die Entscheidung für Gorbatschow gefallen war. Gorbatschow war der Jüngste von drei Kandidaten für das Amt des KPDSU-Generalsekretärs. Die Entscheidung für ihn fiel wegen seines Alters, nicht wegen seiner überragenden Führungsfähigkeiten. Später hat es sich gezeigt, dass er die nicht besessen hat.

      Im November 1989 wurden Sie Ministerpräsident der DDR – an sich ein Karrieresprung?

      Nein, ich habe etwas anderes empfunden: Mir kam es darauf an, dass die Regierung gegenüber der SED die Verantwortung erhält, die ihr zusteht. Daher kam meine Bereitschaft, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen.

      „Klassenkampf muss es doch irgendwie geben!“

      Sie hatten in der DDR als Politiker den Ehrgeiz, die Gesellschaft zu gestalten. War das das Einzige, was Sie getrieben hat?

      Ich denke, das war schon sehr viel. Bei Politikern gehe