Ja, ich hatte auch so meine Bedenken, ob man mich nimmt. Aber im Fachbereich Architektur gab es damals wenige Einschreibungen, insgesamt waren das nur 25 Studenten, und deswegen hat man mich dann auch genommen. Da war ich natürlich riesig froh. Das war auch eine schwere Zeit. Das Studium war mit Mathematik und Statik verbunden, und in Mathematik hatte ich natürlich sehr wenig Kenntnisse und Voraussetzungen. Ich musste alles nachholen, was man eigentlich fürs Abitur gelernt hätte, um überhaupt ein Verständnis für Mathematik und Statik zu bekommen. Vieles habe ich mir autodidaktisch beibringen müssen, um den Vorlesungen überhaupt folgen zu können. Ich bin nach wie vor kein Statiker, ich bin mehr auf dem künstlerischen Gebiet als Architekt tätig.
Was haben Sie auf künstlerischem Gebiet im Studium gelernt?
Ich hatte sehr erfahrene Professoren, zum Beispiel Karl W. Ochs und Walter Henn 5 , die später beide in den Westen gegangen sind und somit für uns verloren waren. Deren Ausbildung zielte daraufhin, Architektur für die Menschen zu machen. Es ging also nicht so sehr darum, ökonomische Bauten zu entwerfen, sondern Architektur muss für die Menschen gemacht werden. Das war das Credo dieser Ausbilder, die mich auch dahingehend geformt haben. Und dadurch, dass Ochs und Henn Ende der 1940er Jahre den Wettbewerb für den Wiederaufbau des Chemnitzer Opernhauses gewonnen hatten, bekam ich schon als Student die Möglichkeit, an konkreten Planungen mitzuarbeiten.
Wie ging es nach Ihrem Abschluss an der Hochschule für Sie weiter?
Das Studium habe ich 1950 abgeschlossen, nach acht Semestern. Inzwischen hatte ich auch meine Frau kennen gelernt, die in Dresden an der TU studierte und dort zum Bauingenieur ausgebildet wurde. Ich blieb daher in Dresden und arbeitete im VEB Industrie-Entwurf Dresden. Dann kam der damalige Stadtbaudirektor von Chemnitz, Georg Funk, 6 an die TU Dresden und übernahm dort den Bereich des Städtebaus, den es zu meiner Studienzeit noch nicht gegeben hatte. Das war für mich die Sache! Also hab’ ich bei ihm zwei Jahre lang ein Zusatzstudium für Stadtplanung gemacht. 1954 bin ich dann mit meiner Frau zurück nach Chemnitz gegangen – in der Zwischenzeit war es schon Karl-Marx-Stadt geworden. Ich bekam dort eine Stelle in der Stadtplanung, als Leiter des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung. Da ging es um den ganzen Bezirk Karl-Marx-Stadt, und so habe ich in vielen Gemeinden und Städten im Bezirk städtebauliche Planungen machen können.
Welche städtebaulichen Planungen standen Mitte der 1950er Jahre an?
Zum Beispiel die Neustadt in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge. Die dortige Altstadt war ja durch Bergschäden, die die Wismut 7 verursacht hatte, völlig in sich zusammengebrochen. Wir mussten also ein neues Stadtgebiet planen, um die Bevölkerung wieder unterzubringen. Allerdings wurde ich bald hellhörig. Ich hatte gelernt, dass meine Arbeit den Menschen und den Bewohnern von Gebäuden zugute kommen sollte. Der Städtebau im Bezirk Karl-Marx-Stadt war aber ausschließlich ökonomisch orientiert. Es wurde wenig Wert darauf gelegt, Wohngebiete für die Menschen zu planen, es ging eher darum, auf möglichst rationelle Weise viele Wohnungen zu errichten.
Hatte dieses städtebauliche Konzept damals schon die Plattenbauarchitektur im Blick?
Plattenarchitektur gab es noch nicht, die kam erst etwas später, Anfang der 1960er Jahre. Aber man hatte schon die Richtung eingeschlagen. Die Forderungen waren damals: Man muss schnell und ökonomisch möglichst viele Wohnungen bauen – und zwar mit Großblöcken aus Abbruchziegeln. Das war die erste Stufe des industriellen Bauwesens … (Holt tief Luft) Und das störte mich schon damals sehr, diese Tendenz: industrielles Bauen, Rationalisieren, weniger Achtgeben auf die Wünsche der Bewohner. Deshalb kam ich auf die Idee, mich auf dem Gebiet der Städtebausoziologie weiterzubilden. Man riet mir, nach Leningrad zu gehen, dort gäbe es ein Institut, an dem man das lernen könne. Das habe ich dann gemacht. Zuerst wurde natürlich geprüft, ob ich überhaupt der Richtige wäre, in die Sowjetunion zu gehen. Ich wurde gefragt, ob ich denn die russische Sprache beherrsche. Ich konnte kein Wort Russisch sprechen (lacht). Aber schließlich gab man mir doch grünes Licht.
„… dass ich in vielen Gegenden der Sowjetunion herumkam.“
Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Sowjetunion?
Ich bin mit einem Physiker aus der DDR dorthin gereist. Wir kamen erstmal nach Moskau und konnten uns dort mehrere Tage umsehen. Das war schon interessant, wir hatten ja schon viel von Moskau gehört. Manches war für uns völlig neu: Es wurde ja damals die Untergrundbahn gebaut. Oder auch die Hochhäuser, die da entstanden waren. Jedoch neben grandiosen Neubauten war auch viel Elend zu sehen … Es waren ganz unterschiedliche Eindrücke, die ich da gewonnen habe. Dann ging es weiter nach Leningrad. Wir kamen frühmorgens dort an und keiner war da, der uns abholte. Ich hab’ mich dann in ein Taxi gesetzt, und als ich am Institut ankam, sagten die: „Wer sind Sie denn, wo kommen Sie denn her?“ Das war mein erster Eindruck von Leningrad. Eigentlich war alles gut geplant gewesen, und die wussten dennoch von nichts. Man reagierte aber sehr freundlich und höflich. Ich wurde in einem Wohnheim für Aspiranten untergebracht. Und dann hieß es erstmal Tag und Nacht Russisch lernen. Nach drei Monaten konnte ich schon ganz gut Russisch sprechen, nach sechs Monaten hatte ich die erste Dolmetscherprüfung hinter mir.
Wie sind Sie damals in Russland als Deutscher aufgenommen worden?
Ich würde sagen, recht freundschaftlich. Zuerst hatte ich Bedenken, wie man mich als Deutschen in dieser leidgeprüften Stadt aufnehmen würde. Ich knüpfte Kontakte zu einigen Bewohnern von Leningrad, die die Blockade miterlebt und dort natürlich Fürchterliches durchlebt hatten. Sie haben zwar oft davon erzählt, aber sie sind nicht nachtragend gewesen, das muss ich ehrenhalber sagen. Davor habe ich großen Respekt.
Wie verlief Ihr Studium in Leningrad?
Die Ausbildung auf dem Gebiet der Städtebausoziologie erfolgte in vielen Gegenden der damaligen Sowjetunion. Soziologische Probleme wurden nicht nur im eigentlichen Russland behandelt, sondern auch in ehemaligen Teilrepubliken wie Kasachstan, Usbekistan oder Kirgistan. Ich bekam eine Kommandirovka: Man wurde also in bestimmte Gebiete der Sowjetunion ,kommandiert‘. Dort konnte ich soziologische Studien anstellen und mit unterschiedlichsten Menschen umgehen. Hab’ auch den Islam kennen gelernt im vorderen Orient. Ich habe in der Sowjetunion an Lebenserfahrung enorm dazu gewonnen. Leider war es so, dass ich diese Ausbildung nicht abschließen konnte. 1958 starb meine Frau, die in Karl-Marx-Stadt geblieben war. Also musste ich sofort zurück, um meine drei Söhne zu betreuen. Ich hatte keinen Arbeitsplatz, das war ja alles so plötzlich verlaufen. Da alles so schnell über mich kam, habe ich auf der Großbaustelle des Heizkraftwerkes Karl-Marx-Stadt-Nord angefangen. 1960 kam ich schließlich zum Bezirksbauamt als stellvertretender Bezirksarchitekt. Dort war ich unter anderem verantwortlich für die Gebietsplanung im Bezirk Karl-Marx-Stadt.
„… ein Wohngebiet so bauen, dass die Menschen sich dort wohl fühlen.“
Wie sah es Anfang der 1960er Jahre baulich in Karl-Marx-Stadt aus?
Seit dem Krieg waren einige Häuser am Rande des Zentrums wieder aufgebaut worden, aber im eigentlichen Stadtzentrum war noch nichts passiert. Erst 1959 war ein Politbürobeschluss des ZK der SED für den Wiederaufbau des Stadtzentrums gefasst worden. Bis 1960 hatte sich da wenig getan. Es gab kaum finanzielle und materielle Baukapazitäten, und außerdem fehlte es an den Planungsvoraussetzungen. 1964 kam eines Tages der Bezirksbaudirektor und meinte, es werde einer gesucht, der die Planung und Baudurchführung für den Wiederaufbau des Stadtzentrums macht. Das interessierte mich, und so kam ich in die Stadtverwaltung von Karl-Marx-Stadt – als Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Stadtbaudirektor und Stadtarchitekt. Damals hatte ich bald 120 Mitarbeiter, was schon eine ziemliche Verantwortung war.
Haben Sie jemals überlegt, in den Westen zu gehen, so wie Ihre beiden Professoren?
Nein, überhaupt nicht. Ich hatte hier meine Heimat, war mit der Stadt verbunden. Ich hatte meine Familie hier. Das war von vornherein kein Thema. Aber ich war einmal in West-Berlin zu einer großen Bauausstellung. (Überlegt) 1958 muss das gewesen sein. Da war ich nicht delegiert, sondern aus eigenem Interesse. Das war mehr oder weniger illegal, und das hat man mir dementsprechend