Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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der SED angehörten und nach Möglichkeiten für eine Reform des sozialistischen Staates suchten.

       18 Am 7. Oktober 1989 fanden offizielle Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR statt. Parallel kam es zu zahlreichen Protestaktionen der Opposition, denen mit massiver Polizeigewalt begegnet wurde. Einige Ereignisse in Berlin konnten von Korrespondenten der ARD gefilmt werden.

       19 Götz Aly: Deutschstunde: Opfer so weit das Auge reicht. Historiker der Humboldt-Universität rücken die eigene Geschichte zurecht/ Disziplinierte Ex-Studenten wurden geschnitten, abgedruckt in: Rainer Eckert u. a. (Hg.): Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente des Unabhängigen Historiker-Verbandes, Berlin 1994, 325-327.

      Salomea Genin

      „… ich wollte eine deutsche Kommunistin werden.“ - Salomea Genin, geboren 1932

      „Ich bin a Jewish woman of the world“, antwortete Salomea Genin jüngst auf die Frage, ob sie mittlerweile ihre ,Wurzeln‘ gefunden habe. 1 1932 in Berlin geboren, musste die damals 6-jährige Salomea gemeinsam mit Mutter und Schwester vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung bis ans andere Ende der Welt fliehen: nach Australien. 2 Mit 19 zog es sie zurück nach Deutschland – auf der Suche nach ihren nationalen Wurzeln‘. Als gläubige Kommunistin hoffte sie, diese in der DDR zu finden. Im Rückblick jedoch beschreibt sie sich als „australische Jüdin in der DDR“. 3 Was nun – eine junge jüdische Kommunistin auf der Suche nach ,nationalen Wurzeln‘, ausgerechnet in der DDR? Eine ,australische Jüdin in der DDR‘? Eine jüdische Frau von Welt‘? Oder alles zusammen?

      Mich interessierte Salomea Genins Lebensweg und vor allem: Was bedeutete ihr die DDR? Was erhoffte sie sich, dort zu finden, warum verließ sie Australien und wartete neun Jahre, bis man ihr 1963 erlaubte, sich in ihrem Traumland DDR niederzulassen? Zunächst hielt man sie für eine Agentin, dann wollte das MfS sie für die Auslandsaufklärung aufbauen: 1961 wurde sie in Westberlin von der DDR-Staatssicherheit angeworben. 1963 durfte sie dann endlich in die DDR übersiedeln. Sie bekam die ersehnte Staatsbürgerschaft, trat in die SED ein und gründete eine Familie. Bis in die frühen 1980er Jahre blieb Salomea Genin loyal zur Parteilinie und setzte ihre Stasi-Tätigkeit fort. Allerdings mit wachsenden Zweifeln: Sie interessierte sich für Feminismus – ein verpöntes Thema in der DDR. Sie wollte ihre Kinder zu freien Menschen erziehen – die DDR pflegte Autoritätshörigkeit. Die Erinnerung an den Holocaust war ihr wichtig – in der DDR schien er vergessen. Am Ende stand die Erkenntnis, in einem ,Polizeistaat‘ zu leben und sich selbst zutiefst darin verstrickt zu haben. Sie brach die Zusammenarbeit mit der Stasi ab. Im Mai 1989 trat sie schließlich aus der SED aus, um sich im September den Bürgerrechtlern im Neuen Forum anzuschließen.

      Wie blickt Salomea Genin heute, zwanzig Jahre nach der ,Wende‘, auf ihr Leben in der DDR zurück? Bereut sie ihre einstige Entscheidung, in die DDR zu gehen? Welche Erfahrungen hat sie mit dem neuen Deutschland gemacht, in dem sie nun seit zwei Jahrzehnten lebt?

      Salomea Genin wohnt in einem einst überwiegend jüdischen Viertel in Berlin-Mitte. Neugierig auf die Person, über die ich aus ihren Büchern schon so viel wusste, klingele ich an ihrer Wohnungstür. Mir öffnet eine kleine Frau mit dichtem, sehr kurz geschnittenem Haar. Ich bin überrascht von ihrer Agilität – immerhin ist sie 76 Jahre alt. Kaum haben wir uns in ihrer schönen Altbauwohnung gesetzt, wartet sie aufmerksam auf meine erste Frage.

      „… dort wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben ernst genommen.“

      Können Sie einleitend etwas über Ihren familiären Hintergrund sagen?

      Ich bin 1932 in eine jüdisch-russisch-polnische, jiddischsprachige Familie hineingeboren. Meine Eltern waren 1928 von Krakau nach Berlin gekommen – auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie hatten den Antisemitismus in Polen gründlich satt. In Berlin haben sich meine Eltern dann getrennt, 1937 wurden sie geschieden. Ich war damals fünf Jahre alt. Meinen Vater habe ich das letzte Mal gesehen, als ich sechs war. Er war gerade nach fünf Monaten aus Buchenwald zurückgekommen – er war ja arbeitslos und als ,asozialer Jude‘ eingesperrt worden. Wenn man 100 Reichsmark einzahlte und eine Möglichkeit zum Auswandern nachwies, konnte man damals aus dem KZ entlassen werden. Man hatte dann einen Monat Zeit, um Deutschland zu verlassen. Trotz Scheidung hat meine Mutter seine Emigration nach Shanghai organisiert. Sie hat ihn vor der Ausreise dann auch noch für einen Monat aufgenommen – er hatte ja keinen Ort, wo er hinkonnte. Das war das letzte Mal, das ich meinen Vater gesehen habe. 4 1939 ist meine Mutter schließlich mit mir und meinen beiden älteren Schwestern zu ihrem Bruder nach Australien emigriert.

      Spielte das Judentum in Ihrer Familie eine Rolle?

      Jüdischer als meine Mutter konnte man nicht sein. Dabei war sie nicht religiös. Das Jüdischsein ist eben nicht nur eine Religionsfrage, es ist auch eine Nationalitätfrage, auch eine Mentalitätsfrage. Es ist eine Frage von: Wo steht man in der Geschichte? Meine Mutter hätte sich zum Beispiel nie und nimmer in einen Nichtjuden verliebt. Man tut sich nicht mit einem Nichtjuden zusammen, ja? Wir hatten aber keine religiösen Dinge im Haus, nicht einmal eine Menora. 5 Wir hatten nur diese blau-weiße Büchse vom Jewish National Fund, 6 wo man Pfennige reingab, um Land zu kaufen in Palästina, damit einmal ein jüdischer Staat entstehen kann. Trotzdem hat mich meine Mutter später in die Synagoge geschickt, als ich 12, 13 Jahre alt war. Selber ging sie nicht hin. Aber alles andere an meiner Mutter, die kulturelle Denkweise war jüdisch.

      Welche Bedeutung hatte Politik in Ihrem Elternhaus?

      Politik hat bei den Ostjuden immer eine Rolle gespielt, denn die waren ja immer verfolgt von Pogromen und Antisemitismus. Das ist ja alles politisch. Und meine Eltern träumten auch von einer schönen, gerechten Welt, in der es keinen Antisemitismus mehr geben würde. Meine Mutter war also politisch interessiert, ohne groß aktiv zu sein.

      Mit 12 Jahren wurden Sie Jungkommunistin, mit 17 traten Sie in die Australische Kommunistische Partei (KP) ein. Wie sind Sie zu dieser politischen Richtung gekommen?

      Ich war – so nannte mich meine Schwester – a brooding child, ein brütendes Kind. Ich kam nicht aus mir heraus. Und deshalb hat mich Renia, meine acht Jahre ältere Schwester und Ersatzmutter, zum Kommunistischen Jugendverband mitgenommen. Sie war schon Mitglied in der KP. Und dort wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben ernst genommen, traf ich Leute, die mir zuhörten. Die reagierten auf das, was ich dachte und fühlte. Das kannte ich gar nicht. Zu Hause spielte ich – die Jüngste – keine Rolle, es ging immer nur um die Gefühle meiner Mutter und Schwestern. Meine Gefühle wurden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich keine Bezugsperson, der ich nicht auf den Wecker fiel. Keine Person, die sich freute, wenn ich da war. Dort fand ich die Ersatzfamilie, die ich schon immer gebraucht hatte. Und ich fand auch eine Ideologie, die meinem Leben eine Richtung wies. Die Sinnfrage war beantwortet. Das ist nichts, was man so leicht aufgibt. Als dann in Australien der ,Kalte Krieg‘ begann und die Kommunisten zum Staatsfeind Nummer Eins wurden, war das für mich nur noch mehr ein Grund, festzuhalten an der Partei und an der Idee.

      Wie hat Ihre Mutter auf Ihr politisches Engagement reagiert?

      Einmal, am Anfang des ,Kalten Krieges‘, ist die Polizei zu meiner Mutter gekommen und hat ihr gesagt, was ich in meiner Freizeit so treibe. Meine Mutter hat sich für mein Tun ansonsten eigentlich nicht interessiert. Ich war 14, 15 und ging abends tanzen mit Genossen, die fünf und zehn Jahre älter waren als ich. Ich sah ja auch wesentlich älter aus, als ich eigentlich war. Da lernte ich tanzen, Walzer und Tango und Rumba und was es alles so gibt. Aber sie hat das eigentlich nie zur Kenntnis genommen. Ich hatte immer das Gefühl, ich bin meiner Mutter egal. Und nun kam der Polizist, und als sie von meinem Engagement erfuhr, hat sie auf mich gewartet, als ich von irgendeiner Versammlung kam. Sie hatte sichtbar Angst und hat mir gesagt, dass ich so doch nicht weitermachen könne. Es sei ja richtig, dass man sich für Politik interessiert, aber doch nicht auf diese Weise: Zeitungen verkaufen auf der Straße, in der Öffentlichkeit auf Versammlungen reden. Ich sollte mich vielmehr dafür interessieren, einen