Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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14 Harry Tisch (1927-1995), Mitglied des Politbüros und seit 1975 Vorsitzender der SED-treuen Einheitsgewerkschaft FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund)

       15 Am 1. Februar 1990 legte Hans Modrow einen Plan für die deutsche Vereinigung vor, der ein gleichberechtigtes Zusammengehen von DDR und BRD vorsah.

       16 Ein von der Regierung Modrow am 7. März 1990 erlassenes Gesetz ermöglichte es Eigentümern von Wohnhäusern, die dazu gehörigen Grundstücke rechtmäßig zu erwerben. Auf diese Weise blieben sie vor Restitutionsansprüchen der Vorbesitzer geschützt.

       17 Durch die ,Bodenreform‘ auf dem Gebiet der DDR wurden nach 1945 Landbesitzer enteignet. Das Land wurde an Kleinbauern verteilt, die später in die staatlichen LPG überführt wurden. Ein weiteres von der Regierung Modrow erlassenes Gesetz vom 16. März 1990 bestätigte die Enteignungen und verhinderte so die Rückübertragung des Grundbesitzes nach der Deutschen Einheit.

      Kurt Pätzold

      „Mir kamen stets die Historiker lächerlich vor, die sich über Geschichte beschweren.“ - Kurt Pätzold, geboren 1930

      Der ,Erziehungsdiktator‘ – so nennt der Historiker Kurt Pätzold sich selbst in seinen Erinnerungen. 1 Pätzold schlug nach 1989 viel Feindschaft entgegen. An der Berliner Humboldt-Universität wurde er wegen seiner Beteiligung an so genannten Relegationen zwischen 1968 und 1976 heftig angegriffen.

      Damals waren junge Menschen wegen ihrer Sympathien mit dem ,Prager Frühling‘ von der Universität geworfen worden. Pätzold hatte jedoch nicht ihren Rauswurf, sondern mit „studienverschärfenden Sondermaßnahmen“ ein fachlich anspruchsvolleres Studium gefordert. Pätzold war stets umstritten – schon während seiner Studentenzeit in Jena. Das Schicksal des Jenenser Historikers Karl Griewank in den 1950er Jahren sorgt bis heute für den Vorwurf, dessen kommunistische Studenten hätten ihn geradezu in den Selbstmord getrieben. 2 Nach 1989 bot Pätzold zahlreiche Angriffsflächen, denn er war nicht nur ein akribischer Wissenschaftler, sondern seit seiner Jugend auch ein scharfzüngiger politischer Agitator. Zudem ging er nach dem Systemwechsel nicht in Deckung, sondern entschuldigte und verteidigte sich beredsam.

      Pätzold, ein marxistischer Hardliner? Als Historiker ist Pätzolds Spezialgebiet die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, die Zeit des Faschismus‘. Hier erforschte er insbesondere die Vorgeschichte der Morde an den europäischen Juden. Er versuchte, den Zusammenhang zwischen dem kühlen, imperialistischen Interesse der kapitalistischen Gesellschaft und der wahnhaften Verfolgung und Vernichtung der Juden nachzuweisen. Auch einige westdeutsche, britische und amerikanische Historiker setzten sich mit seiner marxistischen Deutung auseinander, sodass es bei der Deutung des Holocaust zu erstaunlichen Annäherungen zwischen Ost und West kam.

      Kurt Pätzold erwies sich als liebenswürdiger, auskunftsfreudiger älterer Herr, der sich bei einer Tasse Kaffee gern lange und intensiv befragen ließ. Schon in seiner Autobiografie hat mich die Bereitschaft beeindruckt, auch Rechenschaft über menschliche Fehler und politische Irrtümer abzulegen – selbst wenn mich angesichts seiner ungebrochenen Freude an provokativen Formulierungen wieder Unbehagen beschlich: Was würden die wütenden Studenten von damals dazu sagen? Da ich mir bewußt war, in dem Gespräch nicht die Wahrheit über diese Vorgänge ermitteln zu können, wollte ich vor allem wissen: Wie wurde man nach 1945 ausgerechnet Kommunist und politischer Kämpfer für eine Partei wie die SED? Und warum wurde Pätzold letztlich doch nicht Politiker, sondern Historiker? – Wir sitzen am Fenster eines Berliner Altbaus, in einem Raum mit Tisch und Stühlen, einem Bett und der unvermeidlichen Menge an Büchern.

      „Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg.“

      Drei Jahre nach Ihrer Geburt kamen die Nationalsozialisten an die Macht, als Sie neun Jahre alt waren begann der Zweite Weltkrieg. Was hat Sie in dieser Zeit geprägt?

      Am stärksten das Familienumfeld in Breslau. Mein Vater, ein Maschinenschlosser, war vor 1933 in der Sozialistischen Arbeiterpartei. 3 Meine Eltern waren keine Widerstandskämpfer, aber sie haben in diesen Jahren versucht, mit Anstand zu leben und diesem Regime keine Konzessionen zu machen. Durch sie erhielt ich einen begrenzten Einblick in die Arbeitswelt jener dreißiger Jahre. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb für Schwermaschinenbau, meine Mutter als Aufräumfrau – in Berlin nannte man das wohl ,Putze‘.

      Inwiefern haben sich die damaligen Verhältnisse auf Ihren Alltag ausgewirkt?

      Innerhalb der Familie herrschte eine gewisse Arbeitsordnung und -teilung. Wenn ,große Wäsche‘ war, hatte ich mich zwei Nachmittage im Waschhaus einzufinden. Es war auch selbstverständlich, dass ich meiner Mutter an ihren Arbeitsstellen die Kohleeimer hoch schleppte und in unserem Haushalt half. Mein Vater – ein aufgeklärter Mann – sagte: „Wenn deine Mutter die ganze Woche bei anderen Leuten den Dreck wegräumt, muss sie das am Wochenende nicht auch noch bei uns in der Wohnung machen. Jetzt sind wir dran!“ – So gewann ich ein Verhältnis zu praktischer Arbeit, wenn ich auch nie ein geschickter Handwerker geworden bin. Ich habe es über Fahrradreparieren, Tapezieren und Gartenarbeiten hinaus nicht zu sehr viel gebracht. Aber es gab eben klare Forderungen, woran ich mich zu beteiligen habe. Gleichzeitig genoss ich die größten Freiheiten. Ich konnte aufs Fahrrad steigen und mich mit einem Freund irgendwo in der Umgebung der Stadt im Grünen rumtreiben, Unsinn machen. Meine Welt waren Schwimmbäder und Fahrradtouren. Außerdem habe ich viel gelesen. Unter dem Strich: Die Geschichte meiner Privilegien beginnt mit der Atmosphäre in meiner Familie in diesen Zeiten.

      Sie haben gerne gelesen. Woher bekamen Sie die Bücher?

      Die Stadtteilbibliothek war ziemlich gut bestückt, unsere eigene hingegen lächerlich gering. Mein Vater hatte seine linke Literatur 1933 auf dem Gelände eines Schrebergartens vergraben. Sie verdarb jedoch. Zu meinem eigenen Bücherbestand, der auf einem Bord Platz gehabt hätte, gehörte Don Quijote, den ich wieder und wieder gelesen habe, außerdem deutsche Sagen, die irgendwie ins Haus gekommen waren. Und schließlich eine Lektüre, die nicht für mich gedacht war: Ehe man Ehemann wird – ein Aufklärungsbuch, in dem ich heimlich las.

      Wie standen Sie zum Nationalsozialismus?

      Da war eine Distanz. Zuhause haben wir in den Kriegsjahren BBC gehört. Jeden Abend hockte ich mit meinem Vater mit einer Decke über dem Kopf vor dem Radio, bis Mutter dann sagte: „Wann kommt ihr denn endlich essen?“ Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater 1941 unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion mit mir in das Gasthaus ging, das seine Mutter betrieb. Es war schon vor 1933 ein Nazi-Treffpunkt gewesen. Ich vermag nicht zu sagen, was Vater da geritten hat. Möglicherweise hat er sich gesagt: „Na, da wollen wir uns die Nazis mal angucken, wie sie darauf reagieren – das ist ja der Anfang ihres Endes.“ Die waren jedoch schon alkoholisiert und feierten die Sondermeldungen. Als mein Vater nicht mitmachte, sagte sein Schwager zu ihm: „Dich bringen wir auch noch da hin, wo du hingehörst.“ Darauf verließen wir das Lokal. Glücklicherweise blieb die Episode folgenlos.

      Konnten Sie diese Distanz zum Nationalsozialismus auch in der Schule halten?

      Zu meinen Klassenkameraden gehörte einer, mit dem ich mich ein wenig befreundete. Er war der einzige, der nicht dem Jungvolk angehörte, weil er eine medizinische Bescheinigung besaß, dass er ,den Dienst‘ nicht machen könne. Mit dem habe ich mittags schon mal englischen Rundfunk gehört. In der Schule konnte man sich dem Mitmachen kaum entziehen, noch dazu, wenn man einigermaßen reden konnte. Einmal musste ich in der Schule einen Vortrag halten, anlässlich des Jahrestags der NSDAP-Gründung oder eines ähnlichen Jubiläums. Als ich mich wieder in die Bank setzte, fragte mich dieser Freund: „Haste was geglaubt von dem, was du da gerade erzählt hast?“ Da haben Sie in einzelnen Bildern ein wenig von der Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Das hatte nichts mit Widerstand zu tun, überhaupt nicht. Aber es war diese Distanz zum Regime da.

      Dennoch waren Sie in der Hitler-Jugend und sind als Sanitäter auch HJ-Führer geworden.

      Ja,