Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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einzutreten?

      Meine Umgebung hat mich ständig daran erinnert, dass ich Jüdin bin. Aber vor allen Dingen, und das war wahrscheinlich, was mich trieb, merkte ich nach acht Jahren in der DDR: Die Leute vergaßen den Mord an den Juden. Er war dabei, im Alltag vergessen zu werden. Das hat mich sehr, sehr gestört. Das hat sich jedes Mal, wenn ich das merkte, angefühlt, als würde jemand ein Messer in meinen Bauch reinschieben und umdrehen.

      In der DDR gab es eine deutlich antifaschistische Gedenkkultur – wie verträgt sich das mit dem Vergessen, von dem Sie gesprochen haben?

      Mitte der 1970er Jahre habe ich zum Beispiel bei Gedenkstättenbesuchen ausländischer Gäste gedolmetscht. Es war entweder in Buchenwald oder in Sachsenhausen, dass mir einmal eine Liste auffiel, wie viele Menschen in welchen Ländern durch den Krieg umgekommen sind. Diese Liste enthielt sechs Millionen Polen. Da wurde ich ärgerlich, denn ich wusste, dass von diesen sechs Millionen Polen drei Millionen Juden gewesen waren. Das stieß mir auf. Vor allem aber hatten die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, keine Ahnung von der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Wenn ich irgendeine Kleinigkeit aus meiner eigenen Geschichte erwähnte, hatten die oft keine Ahnung wovon ich rede. Ich musste dann erst mal anfangen, Sachen zu erklären, die mir selbstverständlich waren – und die guckten mich an: Wovon redet die denn? Das hat mich zutiefst gestört. Irgendwann hörte ich dann den Satz von George Santayana 17 : „Wer seine Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Diesen Satz habe ich dann immer wieder gesagt. Ich bin also in die Gemeinde aus zweierlei Gründen eingetreten: Erstens, weil ich nach einer Gemeinschaft suchte, wo ich auf dieses Vergessen nicht stoßen würde. Das war unter Juden nicht möglich. Und zweitens vermisste ich die politische Arbeit, die ich aus Australien kannte. Ich wollte, dass die jüdische Gemeinde politische Arbeit macht, so wie die christliche Friedenskonferenz.

      Sie hatten auch Kontakt zur evangelischen Kirche. Wie ist es dazu gekommen?

      Das MfS hatte mich in den 1960er Jahren in die Evangelische Akademie 18 geschickt. Dadurch habe ich Kontakt zur evangelischen Kirche bekommen. Nach meinem Bruch mit der Stasi 1982 19 fehlte mir ein Ventil, um über die Dinge zu sprechen, über die ich in der normalen Gesellschaft nicht reden konnte. Da ging ich wieder in die Akademie und hab’ diesen Kontakt weiter ausgebaut. Dort konnte ich über die feministischen Fragen reden, die mich beschäftigten. Dort konnte ich auch Jüdin sein, ohne diese merkwürdigen Reaktionen zu bekommen. Allerdings habe ich dort den Philosemitismus kennen gelernt – das hat mich etwas genervt. Aber das war immer noch besser als dieses Messer dauernd in den Bauch reingesteckt zu kriegen. Das war dort nicht so, die hatten ein Bewusstsein von der Shoah. Die meisten zumindest.

      „Aha, die alte Scheiße ist wieder dabei, einzuziehen …“

      In welcher Situation traf Sie die Nachricht von der Maueröffnung?

      Ich war ja im Mai 1989 aus der Partei aus- und im September 1989 ins Neue Forum eingetreten. Im Oktober bin ich dann nach Australien gefahren, um meine Schwestern zu besuchen. Ich erfuhr es aus den Nachrichten. Meine ehemaligen Genossen hatten mich zu einer Versammlung eingeladen, wir waren ja immer noch befreundet. Sie haben mir gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben, wie wir jetzt den wirklichen Sozialismus aufbauen sollen … Aber ich wusste, dass vieles, was die wollten, völlig unrealistisch war. Aber gut, ich hab’ mir das angehört und mir auch gedacht: „Ja, das will ich genauso wie die.“ Ursprünglich wollte ich drei Monate in Australien bleiben, bin dann aber nur vier Wochen geblieben. Ich fuhr von Tegel aus durch das Loch in der Mauer in der Wollankstraße. Die veränderten Gesichter und die Haltungen der Grenzer erinnerten mich sehr an das Brecht’sche Gedicht über die Maske vom bösen Teufel an seiner Wand: „Wie anstrengend es ist, immer böse zu sein.“ 20 Die waren so erleichtert! Und auch ich empfand Erleichterung und Freude. Die große, fiebrige Aufregung habe ich allerdings verpasst. Aber was danach kam, war ja auch nicht ohne …

      Wie erlebten Sie das knappe Jahr bis zur Deutschen Einheit?

      Mitte Dezember 1989 ging mir ein Satz von Marx drei Wochen lang nicht aus dem Kopf: Dass man den Sozialismus nur aufbauen kann, wenn die Entwicklung der Produktionsmittel und der Produktivität auf einer genügend hohen Ebene sind. Wenn man es versucht, bevor es so weit ist, dann – ich zitiere – „… fängt die alte Scheiße wieder von vorne an.“ Ich weiß noch, ich ging an einem Freitagnachmittag ins Bett – mit einer tiefen Depression. Weil ich wusste: Die alte Scheiße wird wieder von vorn anfangen. Als ich am Montag wieder aufstand, hatte ich verinnerlicht, was ich früher als Teenager als bürgerlichen Quatsch abgelehnt hätte: „Lieber Herrgott, gib mir den Gleichmut, nicht ändern zu wollen, was ich nicht ändern kann; den Mut, zu ändern, was ich ändern kann; und die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden.“ (lacht) Das hat mir viel Stress erspart. Mir war dabei bewusst, dass ich es leichter haben würde als viele andere Leute in der DDR. Ich wusste ja, wie der Kapitalismus funktioniert: Dass meine Miete niemals mehr 58 Mark für 56 Quadratmeter kosten würde; nicht mehr zehn Prozent meines Einkommens, wie es in der DDR üblich war, sondern zwischen einem Viertel und der Hälfte. Dass das Fahrgeld nicht mehr 20 Pfennig für eine Fahrt in ganz Berlin betragen würde, und so weiter. Aber ich wusste eben auch, dass die DDR-Bürger das nicht wussten, dass viele einen Schock bekommen würden.

      Darauf, den wirklichen Sozialismus‘ aufzubauen, haben Sie nicht mehr gehofft?

      Nein. Ich weiß noch, am 18. März 1990 ging ich abends zu einem Freund. Dort erfuhr ich, dass die CDU die Wahlen gewonnen hatte. Ich konnte es nicht fassen! Ich hatte eine solche Wut: „Diese Idioten“, dachte ich, „nur die D-Mark wollen sie haben. Die werden sich noch umgucken.“ Ich sah, wie der Kapitalismus hier wieder einzog und dachte: „Aha, die alte Scheiße ist dabei, wieder anzufangen.“

      Mit der Wende ist eine gewisse Stasihysterie ausgebrochen. Waren Sie davon auch betroffen?

      Nein, es ist keiner zu mir gekommen und hat gesagt: „Du Schwein, du hast über mich berichtet.“ Wenn ich nicht so offen darüber reden würde, würde das auch kein Mensch wissen. Ich machte die erstaunliche Erfahrung, dass sich für meine Geschichte, mit der ich an die Öffentlichkeit zu gehen bereit war, kein Mensch interessierte. Aber ich bewerbe mich ja auch nicht um ein politisches Amt, da wäre es sicher anders.

      Wie sehen Sie selbst Ihre Tätigkeit für die Stasi im Rückblick?

      Ich habe mich schuldig gemacht. So sehe ich das. Ich bin schuldig des Wegguckens, der mangelnden Empathie für die Menschen, die gelitten haben. Ich habe erkennen müssen, dass ich in der DDR so gelebt habe wie die normalen Deutschen in den 1930er Jahren in Berlin, die nicht hingeschaut haben, was mit den Juden und anderen Minderheiten geschah. Ich habe genauso wenig hingeschaut. Und ich habe noch diese Organisation unterstützt, die Verbrechen begangen hat. Damit habe ich mich schuldig gemacht. Ich bin froh, dass ich 1982 da herausgekommen bin. So war dann die Wende für mich wirklich eine Erleichterung. Hätte ich diese Kurve nicht gekriegt, wäre ich einer dieser verbitterten Ex-Genossen geworden. Vielleicht wäre ich in der PDS aktiv geworden, keine Ahnung.

      „… ich habe gelernt, dass ich nur mich selbst ändern kann.“

      Sie wollten einst in der DDR leben und haben dafür Australien verlassen. Nun leben Sie schon 20 Jahre in der BRD. Wie geht es Ihnen heute damit?

      (Lacht) Mein Gott … Ich habe das Gefühl, wir werden in der BRD genauso manipuliert, wie wir in allen kapitalistischen Ländern schon immer manipuliert wurden. Ich wüsste aber nicht, wo ich sonst leben wollte. Vielleicht, weil ich es gewohnt bin, hier zu leben. Weil ich mir hier ein Leben eingerichtet habe und mich hier wirklich wohl fühle. Berlin ist eine internationale, aufregende Stadt geworden in den letzten 20 Jahren. Ich habe auch das Gefühl, dass hier in der BRD die Nazivergangenheit in einer Weise aufgearbeitet worden ist, wie in keinem anderen Land – und das ist eine wirkliche Leistung, finde ich. Ich glaube, es gibt hier viele Menschen, die einen Verantwortungssinn entwickelt haben aufgrund dieser Nazivergangenheit. Das macht sich in der Gesellschaft schon bemerkbar. Gleichzeitig gibt es hier viel Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den letzten 20 Jahren sehr weit auseinandergegangen. Wie überall gibt es einen Mangel an Gerechtigkeit, was mich sehr stört. Aber ich habe gelernt, dass ich gesamtgesellschaftlich