Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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Sie der Anwerbeversuch durch das MfS überrascht?

      Nein, das hat mich nicht überrascht. Ich habe darüber auch gar nicht nachgedacht, muss ich sagen. Ich war ziemlich einsam und, mein Gott: Irgendein Mann, der zwar nicht attraktiv, aber ein Freund von Lucie ist, mich einlädt zum Kaffeetrinken, nett zu mir ist und respektvoll – warum soll ich darüber nachdenken? Es war ganz einfach gut, mit ihm da Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten.

      1963 sind Sie nach Ost-Berlin umgezogen. Sie verpflichteten sich damals, für den Inlandsgeheimdienst zu arbeiten. War das für Sie eine logische Fortsetzung Ihrer bisherigen Tätigkeit für das MfS?

      Genau so. Ich fühlte mich einfach etwas verloren ohne diesen Kontakt. Ich sehnte mich doch nach Kontakt zur Partei! Aber das MfS war mir auch recht. MfS und Partei, das war eine Soße für mich. Als Ausländerin konnte ich nicht in die Partei eintreten. Erst als ich 1965 die Staatsbürgerschaft bekam, konnte ich in die SED eintreten. Und da – endlich! – hatte ich das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein!

      Wie erlebten Sie Ihre erste Zeit in der DDR?

      Zunächst arbeitete ich bei EAW Treptow. 9 Ich wollte an die Basis, mich mit der Wirklichkeit vertraut machen. Aber das dauerte nur vier Monate. Und da war ich nicht gerade glücklich. Die Arbeit hat mich zu Tode gelangweilt, und dann hatte ich auch eine etwas merkwürdige Beziehung zu den Kolleginnen. Ich war sozusagen etwas weltfremd, und die haben ziemlich schnell begriffen, dass ich eine absolut rote Socke war. Also redete bald keine mehr mit mir. Ein Beispiel: In West-Berlin verdiente ich 750 Mark im Monat und ein Paar Nylonstrümpfe kostete 1,50 Mark. In der DDR hatte ich 440 Mark und musste 13,50 Mark für Perlonstrümpfe bezahlen. Als meine Kolleginnen sich über den Preis für Strümpfe beschwerten, sagte ich: „Also, ich verstehe euch nicht. Die DDR baut doch gerade die Schwerindustrie auf. Bei den Strümpfen bezahlt ihr eine Steuer, die gebraucht wird, um unsere Schwerindustrie aufzubauen.“ Ich habe solche Sachen eben immer mal wieder von mir gegeben. Die müssen mich als sehr merkwürdig empfunden haben. Als meine Weststrümpfe dann kaputt waren und ich selber 13,50 Mark bezahlen musste, merkte ich, dass das wirklich ziemlich teuer war. Vielleicht hatten die ja doch Grund, sich zu beschweren.

      Sie arbeiteten nur vier Monate bei EAW – wie ging es danach beruflich für Sie weiter?

      Mein ganz ursprünglicher Berufswunsch war einmal gewesen, Dirigentin zu werden. Weil ich Musik so liebe. Aber das hätte ein Studium bedeutet, was in Australien zu viel Geld gekostet hätte. Da habe ich den Wunsch aufgegeben. Mein nächster Wunsch war Journalistin. Bald nach meinem Umzug in die DDR kam ein Freund auf mich zu, ein Remigrant aus England, und hat mich gefragt, ob ich für Radio Berlin International (RBI) 10 arbeiten möchte – als Journalistin, Sendungen machen auf Englisch, was ja meine Muttersprache war. Da habe ich sofort zugesagt. Nach kurzer Zeit wurde ich aber nur noch als Sprecherin und Übersetzerin eingesetzt. Journalismus ließ mich niemand mehr machen, weil ich immerzu sagte: „Aber der Kaiser ist doch nackt!“ Ich selber habe das gar nicht gemerkt, so naiv war ich. 1970 ging ich dann zu Intertext 11 und habe dort als Übersetzerin gearbeitet. Allerdings war die Arbeit dort auch sehr unbefriedigend.

      Später haben Sie sich selbständig gemacht und studiert.

      Ja, ich habe dann freiberuflich als Übersetzerin gearbeitet und nebenher ein Philosophie-Fernstudium gemacht. Damals fing ich auch an, mich für Feminismus zu interessieren. Besucher aus dem Westen brachten mir amerikanische feministische Literatur mit. Andere Sachen gingen in der DDR ja ohnehin herum – zum Beispiel Klaus Theweleits ,Männerphantasien‘ 12 , das hab’ ich verschlungen. Ich habe gelernt, dass Frauen dazu erzogen sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren und nur immer die Bedürfnisse der anderen zu befriedigen. Da merkte ich: Genau so bin ich auch. Und wie entfremdet ich durch meine sonstige Konditionierung von mir selbst war. Die DDR war außerdem genau so eine Männerwelt, sogar noch viel mehr, als die, in der wir heute leben. Zum Beispiel wäre eine Generalsekretärin der SED niemals denkbar gewesen. In diesen feministischen Büchern wurde eben erklärt, warum wir in einer Männerwelt leben und Frauen nie in höhere Positionen rücken. Diese Literatur hat mir historische Hintergründe auf eine Weise erklärt, wie ich es noch nie gelesen hatte. Für mich war das eine Art Befreiung.

      „Eigentlich kamen meine Realitätserkenntnisse über meine Kinder.“

      Sie lebten in dieser Zeit als allein erziehende Mutter mit zwei Kindern. Wie kamen Sie mit dieser Situation zurecht?

      Schwer. Ich kam nicht damit klar. Ja, die Doppelbelastung war eine Doppelbelastung. Allerdings war ich im Vergleich zu anderen allein stehenden Müttern in der DDR in einer privilegierten Situation. Als Freiberufliche war ich nicht an Betriebszeiten gebunden. Auch finanziell war ich besser gestellt: Ich bekam eine VdN-Rente 13 , noch bevor ich pensioniert war. Ich hatte ein Einkommen von etwa 2000 Mark im Monat, was sehr viel Geld war. Das wusste ich aber nicht, weil ich nicht viele normale Leute kannte.

      Ihre Kinder, wie kamen die zurecht?

      Ich habe meine Kinder anders erzogen als die normalen Mütter in der DDR. Ich bin nun mal in Australien aufgewachsen und habe meine Kinder daher freier erzogen. 14 Was mir aber nicht so bewusst war damals. Irgendwann war ich dann etwas enttäuscht, dass die Kinder sich nicht wohl fühlten in Krippe, Kindergarten und in der Schule. Letztlich waren es meine Kinder, die meine Sicht auf die DDR erstmals in Frage stellten. Wenn mir jemand anderes etwas über die DDR erzählte, was mir nicht passte, dachte ich immer: Der versteht das eben nicht, oder lügt sogar! Bei meinen Kindern wusste ich, die erzählen mir die Wahrheit. Und die pädagogische Haltung der Lehrer hat mich ziemlich entsetzt. Diese Erziehung durch Angst und das Angepasstsein, was in Deutschland auch früher üblich war. Das hatte ich ja nicht erwartet.

      Können Sie für diese Art der Erziehung ein Beispiel nennen?

      Einmal kam eine Hortnerin zu mir. Zunächst war ganz offensichtlich, dass sie mich verehrte, weil ich VdN war. Sie hatte Probleme mit meinem damals 10-jährigen Sohn: „Der Junge kippelt in der Klasse und kann nicht richtig arbeiten.“ Ich solle doch auf ihn einwirken, dass er richtig sitzt. Ich sagte: „Wissen Sie, wenn der Unterricht wirklich interessant ist für den Jungen, dann wird er nicht kippeln. Umgekehrt muss man das sehen.“ So was hatte sie scheinbar noch nie gehört. Dann die Westklamotten, die wir aus Australien geschickt bekamen, einschließlich Jeans. Die hab’ ich bei den Kindern hochgekrempelt. „Die Jeans, also das sieht nicht so gut aus, Frau Genin“, meinte die Hortnerin. „Könnten Sie nicht mal diese Hosen einnähen?“ Ich dachte, ich hör nicht richtig: „Wenn man im Westen solche Jeans einnäht, da macht man sich lächerlich. Jeans krempelt man nur hoch.“ Am Schluss sagte ich: „Wir werden uns einigen müssen, nicht einig zu sein. Let’s agree to disagree.“ Da merkte ich: Die weiß gar nicht, wovon ich rede. Von dem Konzept, dass man mal nicht die gleiche Meinung hat, hatte sie offensichtlich noch nie gehört. Das war für mich eine sehr bedeutende Begegnung: Ab da hörte ich auf, Lehrer als Autorität für die Erziehung meiner Kinder anzusehen. Bis dahin hatte ich immer die Perspektive der Lehrer eingenommen.

      Wann kamen Ihnen zum ersten Mal richtige Zweifel am Realsozialismus?

      Das war kein bestimmter Moment. Es war eine Ansammlung von verschiedenen Erlebnissen. Im Laufe der Jahre habe ich dieses und jenes erlebt, was ungerecht war. Aber ich war nie bereit, das als systemimmanent zu betrachten, sondern immer nur als die Fehler einzelner. 1981 war aber ein Wendepunkt, als mein 15-jähriger Sohn in der Schule an die Tafel schrieb „Lech Walęsa 15 – unser Vorbild“. Er wurde deswegen verhört – vom Parteisekretär und der Schuldirektorin. Die Direktorin wollte das in seinen Schulabschlussbericht schreiben. Ich wusste, das würde eine Karriere in der DDR völlig unmöglich machen. Ich habe ihn davor bewahrt, indem ich meinen Führungsoffizier bat, das zu verhindern. Das tat er auch. Und nachdem das alles vorbei war, kam mir zum ersten Mal die Erkenntnis, dass ich das nur verhindern konnte, weil ich Remigrantin war, Kommunistin, Altkommunistin – und Jüdin mit Kontakt zum MfS. Als Lieschen Müller wäre ich dem völlig ausgeliefert gewesen. Da begriff ich zum ersten Mal, dass Menschen in der DDR Angst haben – und dass diese Angst berechtigt ist. Eigentlich kamen meine Realitätserkenntnisse meistens über meine Kinder. 16

      „Die