Verlorene Zeiten?. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783940621580
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ich unter den vergleichsweise privilegierten Bedingungen eines Rentners nach Osttarif. Manches ist dabei zum Druck gelangt. Ein früherer Student hat mir bei einer zufälligen Begegnung gesagt: „Wenn man Sie nicht rausgeschmissen hätte, hätten sie sicher nicht so viel geschrieben.“ Punkt.

      Die 40 Jahre in der DDR – waren die für Sie verlorene Zeiten‘?

      Für mich, wie für viele andere meiner Herkunft, gilt, dass sich uns 1945 Möglichkeiten eröffnet haben, die sich eben nur durch diesen Weg in die DDR und dann in ihr eröffneten – Wege in die Wissenschaft, ein Tor zur Kultur, Arbeitsfelder, die uns lohnend schienen und es waren. Eine Ökonomin, einstige Jenaer Kommilitonin, sagte mir das mit dem Blick auf ihre Biografie so: „Ohne dieses ‘45 wäre ich wie meine Vorfahren Näherin in einer Textilfabrik in Gera geworden und geblieben.“

      Und dann rührt aus diesen Jahren noch etwas anderes her: Die menschlichen Beziehungen, die sich zu Zeiten der DDR entwickelt haben. Diese Idee des Aufbruchs in eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Ausbeutung, mit einem auskömmlichen und allmählich reicher werdenden Leben für alle, hat in Jahren und Jahrzehnten Bindungen geschaffen – auch wenn sie am Ende gescheitert ist! Wenn ich jemandem aus längst vergangenen Zeiten per Telefon anrufe und er spricht mit mir, als hätten wir gestern ein Bier miteinander getrunken und am Ende nur vergessen, uns noch etwas zu erzählen … Da lebt etwas fort von dem in der DDR praktizierten Verhältnis, in das individuelle und überindividuelle Interessen zueinander gesetzt waren. Jeder besaß seine eigenen Lebensvorstellungen, seine Vorlieben und Abneigungen. Aber darüber stand noch etwas anderes: eine Vorstellung von einer Welt, die gemeinsam gestaltet werden sollte, ein Optimismus, der zunächst trug und fruchtbar gemacht werden konnte, sich dann aber und endlich als ungerechtfertigt erwies. Die sozialistische Menschengemeinschaft war ein Traumbild. Doch warum sagen Menschen aus der DDR, dass sie in ihren neuen Verhältnissen, bei allen materiellen Gewinnen der ,Wende‘, manchmal unter der Kälte leiden? So viel zu den ,verlorenen Zeiten‘. Und dann – Gewonnenes hin, Verlorenes her – gibt es für mich noch eine moralische Befindlichkeit. Wie zufrieden lässt es sich leben, wenn man für Weltzustände mitverantwortlich ist, in denen es so vielen Menschen einfach dreckig geht, deren Denken bis zur nächsten Mahlzeit reicht, die ihr blankes Überleben sichert?

      Das Gespräch führte Alexander Thomas

       1 Kurt Pätzold: Die Geschichte kennt kein Pardon! Erinnerungen eines ostdeutschen Historikers, Leipzig 2008. Zu den Vorgängen an der Humboldt-Universität und Pätzolds damalige Forderungen: vgl. den Aufsatz von Rainer Eckert u. a.: ”Klassengegner gelungen einzudringen …“ Fallstudie zur Anatomie politischer Verfolgungskampagnen am Beispiel der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin in den Jahren 1968 bis 1972, JHK (1993), 197–225, das folgende Zitat ebd. S. 224.

       2 So Ilko-Sascha Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945-1961, Berlin 1997, S. 206.

       3 Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD, auch SAP) spalteten sich linke Sozialdemokraten in Deutschland 1931 von der SPD ab. Nach 1945 löste sich die Partei de facto auf.

       4 Nach 1945 entstanden (nicht nur) in der Sowjetisch Besetzten Zone vielfältige antifaschistische Zirkel, meist im Umfeld von Mitgliedern der Arbeiterbewegung aus der SPD oder der KPD, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt hatten. In ihrem Programm waren sie parteipolitisch nicht festgelegt; sie wurden später durch die Machtpolitik der SED unter Führung der aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Kommunisten marginalisiert.

       5 Kurt Goldstein (1914-2007) und Stefan Heymann (1896-1967) waren jüdische Kommunisten, die im KZ Buchenwald beide dem von deutschen Kommunisten dominierten Lagerwiderstand angehörten. Nach 1945 machten sie in der DDR Karrieren als Kulturfunktionäre. Heymann tat sich nach 1945 als Zensor von Veröffentlichungen über das KZ Buchenwalds hervor, insbesondere von Schilderungen unpolitischen‘ (jüdischen) Leides. Der KPD-Politiker Ernst Busse (1897-1952), Angehöriger des Buchenwalder Widerstands in leitender Funktion, geriet nach 1946 in die Machtkämpfe zwischen Moskau-Emigranten und ,Altkommunisten‘, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt hatten. Als ehemaliger Funktionshäftling im KZ-Buchenwald wurde er der ,Kollaboration‘ mit der SS bezichtigt, 1950 vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt, 1951 als Kriegsverbrecher‘ verurteilt. Er kam in einem sowjetischen Straflager (GULag) in Workuta ums Leben. Walter Wolf (1907-1977) war als Kommunist in Buchenwald inhaftiert und arbeitete dort ab 1944 in einem ,Volksfrontkomitee‘ an schulpolitischen Sofortmaßnahmen nach der Befreiung. In der DDR wirkte er als Bildungspolitiker, später als Pädagogikprofessor.

       6 Josef W. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Moskau 1946.

       7 Der ,Kurze Lehrgang‘ (B steht für Bolschewiki) ist ein Propagandatext der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der während der Zeit des stalinistischen Terrors entstand und 1938 das erste Mal in der Sowjetunion erschien. Nach 1945 wurde er innerhalb der KPD/SED offiziell für die politische Schulung der Parteimitglieder und –funktionäre eingesetzt.

       8 Pätzold bezieht sich auf Auseinandersetzungen, die nach den 1890er Jahren innerhalb der deutschen, aber auch der internationalen Arbeiterbewegung ausgetragen wurden. Dabei ging es um die Frage, ob der Sozialismus mittels Klassenkampf und revolutionärem Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft (Revolutionismus) oder durch langfristige Reformen zu erreichen sei. Der Reformflügel unterzog die Grundschriften des Marxismus einer Neuinterpretation und wurde daher Revisionismus genannt.

       9 Hans Leisegang (1890-1951) war Philosoph und Physiker. Er wurde 1948 wegen kritischer Äußerungen gegen die kommunistische Hochschulpolitik aus seiner Professur für Philosophie an der Universität Jena entlassen. Leisegang übernahm danach ein Ordinariat für Philosophie an der neu gegründeten Freien Universität in der amerikanischen Besatzungszone in Berlin.

       10 Hugo Preller (1886-1968), Historiker, hatte während des Nationalsozialismus politische Schwierigkeiten und wurde sogar zwangsweise in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. In der DDR war er bis zu seiner Emeritierung 1952 als Professor an der Universität Jena tätig.

       11 Vgl. zuletzt Lothar Mertens: Lexikon der DDR-Historiker, Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik, München 2006, S. 44. Tobias Kaiser führt den Selbstmord dagegen auf eine depressive Grunderkrankung zurück, an der Griewank schon seit seiner Jugend hin und wieder gelitten habe (vgl. Tobias Kaiser: Karl Griewank. Ein Historiker im ,Zeitalter der Extreme‘, Stuttgart 2006; S. 27; präsentiert aber auch zahlreiche Belege für das Vorgehen der Vertreter der SED (vgl. S. 244f.; 263).

       12 Walter Schmidt (*1930) studierte ebenfalls bei Karl Griewank. Er arbeitete vor 1989 zuletzt an der Akademie der Wissenschaften der DDR und war u. a. als Direktor des dortigen Zentralinstituts für Geschichte einer der einflussreichsten Historiker der DDR.

       13 Stefan Heymann argumentierte in seiner Schrift Marxismus und Rassenfrage‘ (Berlin 1948) dafür, den Kampf gegen Judenverfolgung und Antisemitismus als Teil des marxistischen Klassenkampfes zu betrachten.

       14 Beide Filme entstanden unter der Regie von Kurt Maetzig. ,Ehe im Schatten‘ (1947) handelt von der Ehe eines jungen Schauspielers mit einer während des Nationalsozialismus als Jüdin verfolgten Frau. ,Die Buntkarierten‘ (1949) portraitiert am Beispiel der Lebensgeschichte eines Dienstmädchens den aufkommenden Antifaschismus im Arbeitermilieu.

       15 Rudi Goguel (1908-1976) war als Funktionär der KPD zwischen 1934 und 1945 mehrfach in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert. Nach 1945 arbeitete er u. a. als Historiker an der Berliner Humboldt-Universität. Er gab 1973 den Sammelband Juden unterm Hakenkreuz‘. heraus, dessen Interpretation der Judenverfolgung sich deutlich von der gängigen Deutung in der DDR unterschied.

       16 Der Faschismus, die „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Mit dieser Formel deutete der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff 1935 den Zusammenhang zwischen Faschismus und kapitalistischer Gesellschaft. Sie erhielt danach auch für die marxistische Geschichtswissenschaft der DDR einen großen Einfluss auf die Interpretation des Faschismus.