Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre. Dennis Schütze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dennis Schütze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862870448
Скачать книгу
und vormals einflussreichen Werkes, Personalstils oder Signature-Licks endet oder verebbt? In diesem Teil der Arbeit könnte die Evolution einer gitarristischen Rock and Roll-Phrase, also eines charakteristischen Riffs oder Licks der Ära vom ersten nachweisbaren Erscheinen zum Signature-Lick bzw. musikalischen Allgemeingut entwickelt werden und falls möglich, eine Art Stammbaum oder Typologie nachgezeichnet werden.

      Abschließend sollte es nach dieser Betrachtung möglich sein die musikstilistisch charakteristischen Merkmale der Rock and Roll-Gitarre zu beschreiben und den Spielstil musikhistorisch und instrumentenspezifisch zu verorten. Die Untersuchungen zum Einfluss auf und dem Einfluss von einem Werk werden direkt im Anschluss an die jeweiligen Analysen in Kap. 3 präsentiert.

      2. Selektion der Werke

      2.1 Theoretische Grundlagen zur Erstellung einer Auswahl repräsentativer Werke

      2.1.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis

      Die folgenden Überlegungen beziehen sich zu einem großen Teil auf die Theorien des deutschen Ägyptologen Jan Assmann (1997). Ausgehend von dem von Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren entwickelten Begriff „Kollektives Gedächtnis“ hat Assmann den Dualismus zwischen „Kommunikativem und Kulturellem Gedächtnis“ entwickelt und seine Erkenntnisse aus der Altertumsforschung zu einer allgemeinen Theorie von kultureller Erinnerung zusammengefasst, die unter anderem die Themen Kanon und Kanonbildung, Traditionsstrom, Ritual, Identität usw. detailliert erläutert. Assmanns Theorien sind die zum heutigen Zeitpunkt aktuellsten, umfassendsten und einflussreichsten Überlegungen zum Thema (Erll 2005) und lassen sich ohne große Schwierigkeiten auf kulturelle Prozesse des 20. Jahrhunderts übertragen. Sie sollen daher als theoretischer Ausgangspunkt für die nachfolgenden Betrachtungen dienen. Assmanns grundsätzliche Zweiteilung des kollektiven Gedächtnisses in die Pole kommunikatives und kulturelles Gedächtnis wird im Folgenden kurz tabellarisch dargestellt.

kommunikatives Gedächtniskulturelles Gedächtnis
InhaltGeschichtserfahrungen im Rahmen individueller Biographienmythische Urgeschichte, Ereignisse einer absoluten Vergangenheit
Formeninformell, wenig geformt, naturwüchsig, entstehend durch Interaktion, Alltaggestiftet, hoher Grad an Geformtheit, zeremonielle Kommunikation, Fest
Medienlebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und HörensagenFeste Objektivationen, traditionelle symbolische Kodierung/Inszenierung in Wort, Bild, Tanz usw.
Zeitstruktur80-100 Jahre, mit der Gegenwart mitwandernder Zeithorizont von 3-4 Generationenabsolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit
Trägerunspezifisch, Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaftspezialisierte Traditionsträger

      Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. „Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. […]. Es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum entspricht […] ca. 80 Jahren.“ (Assmann 1997, S. 50). Dem gegenüber steht das kulturelle Gedächtnis, das sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit richtet. „Auch in ihm vermag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. […]. Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische sondern nur erinnerte Geschichte“ (Assmann 1997, S. 52).

      Für unsere Betrachtung interessant sind Assmanns Ausführungen zum kommunikativen Gedächtnis, das nach etwa 3-4 Generationen oder 80-100 Jahren mit dem sogenannten „floating gap“ (benannt durch Jan Vansina, 1985) fließend in das kulturelle Gedächtnis übergeht. Innerhalb dieser 80-100 Jahre kommt es zu einem interessanten Phänomen, denn es scheint sich in der Mitte dieses Zeitraums nach 40 Jahren eine „kritische Schwelle“ (Assmann, S. 51) zu bilden. Laut Assmann treten nach diesem Zeitraum „die Zeitzeugen, die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt haben, aus dem eher zukunftsbezogenen Berufsleben heraus und in das Alter ein, in dem die Erinnerung wächst und mit ihr der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe.“ (Assmann 1997, S. 51) Wir werden sehen, ob und wenn ja in welcher Form dieses Phänomen auch im Rahmen unserer Forschungen nachzuweisen sein wird.

      Die Erstellung einer repräsentativen Auswahl musikalischer Werke, wie sie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit unternommen wird, könnte als Bildung eines Kanons mißverstanden werden. Allerdings ist der entscheidende Schritt einer Kanonbildung in seinem ursprünglichen Sinn der Akt der Schließung. Mit diesem ultimativen Akt wird der gebildete Kanon unabänderbar, in Folge dessen auch nicht mehr fortschreibbar und entfaltet damit seinen normativen und formativen Charakter, der durch seine Deutung von Interpreten an Adressaten vermittelt wird.

      Für die in dieser Arbeit unternommene Suche nach einflussreichen und stilprägenden Instrumentalparts der Rock and Roll-Ära kann der Versuch einer Kanonbildung nicht das Ziel sein. Da die Stilistik des Rock and Roll und die dazugehörigen instrumental-musikalischen Äußerungen in den 1950er Jahren stattfanden, liegt dieser Zeitraum aus heutiger Sicht noch deutlich in dem von Assmann als kommunikatives Gedächtnis beschriebenen Zeitrahmen (3-4 Generationen bzw. 80-100 Jahre). Die von ihm beschriebenen Attribute des kommunikativen Gedächtnisses (informell, wenig geformt, naturwüchsig, entstehend durch Interaktion, Alltag, lebendige Erinnerung in organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen) treffen ohne große Einschränkungen zu, das Thema befindet sich wortwörtlich noch in Kommunikation. Auch hat hier in keiner erkennbaren Weise ein Akt der Schließung stattgefunden. Allein die noch immer unbeantwortete und somit offenen Frage „Was ist Rock and Roll?“ des Eingangskapitels dieser Arbeit untermauert diese These. Doch wenn wir nicht nach dem Kanon des Rock and Roll suchen, wonach suchen wir dann?

      Neben dem Kanon und der dazugehörigen Kanonbildung hat Assmann in Anlehnung an Leo Oppenheim die Idee des so genannten Traditionsstroms entwickelt. Sowohl Kanon als auch Traditionsstrom haben normativen und formativen Anspruch. Der entscheidende Unterschied liegt in der Fortschreibbarkeit bzw. Veränderlichkeit des Traditionsstroms gegenüber der (Ab-)Geschlossenheit des Kanons. Assmann beschreibt den Traditionsstrom als einen „lebendigen Fluss: Er verlagert sein Bett und führt bald mehr, bald weniger Wasser. Texte geraten in Vergessenheit, andere kommen hinzu, sie werden erweitert, abgekürzt, umgeschrieben, anthologisiert in wechselnden Zusammenstellungen. Allmählich prägen sich Strukturen von Zentrum und Peripherie heraus. Gewisse Texte erringen aufgrund besonderer Bedeutsamkeit zentralen Rang, werden öfter als andere kopiert und zitiert und schließlich als eine Art Klassiker zum Inbegriff normativer und formativer Werte“. (Assmann 1997, S. 92)

      Der deutsche Musikwissenschaftler Dietmar Elflein hat in einem Essay (Elflein 2008) das Konzept des Traditionsstroms auf einen Teilbereich der populären Musik (Heavy Metal) angewendet und dem Konzept der Kanonbildung alternativ gegenüber gestellt. Er übersetzt das soeben erwähnte Assmann-Zitat in die Sphäre der Populärmusik und beschreibt den Umgang mit Musik innerhalb einer bestimmten Szene oder innerhalb eines Genres.

      „Manche Stücke werden vergessen, neue kommen hinzu. Sie werden umgeschrieben (gecovert), bearbeitet und anthologisiert in einem nicht endenden Strom von persönlichen Plattensammlungen, Mixtapes (-CDs) und iPod-Playlists. Die Musikindustrie trägt aktiv zum Vergessen bei, indem der Bestand zugänglicher, also erwerbbarer Stücke klein gehalten wird, während permanent Neues veröffentlicht wird, das seinen Platz im Traditionsstrom finden soll. Durch zahllose Best of-Veröffentlichungen und thematische Zusammenstellungen versucht die Musikindustrie einen bestimmten Bereich des Traditionsstroms als endgültig normativ und formativ darzustellen. Kleinstfirmen, Plattensammler, private Webseiten-Betreiber, Blogs und die illegalisierten Filesharing-Netzwerke entreißen permanent Stücke diesem Vergessen und halten sie weiter zugänglich für Interessierte und Neugierige. In diesem ungleichen Wechselspiel prägen sich Strukturen von Peripherie und Zentrum, von fast vergessen und viel kopierten bzw. bearbeiteten Texten heraus, die weiter im Fluss sind.“