Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre. Dennis Schütze. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dennis Schütze
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862870448
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      „Der Traditionsstrom beinhaltet damit eine sich verändernde Auswahl dessen, was gewusst werden kann, darf und soll. Er entspricht weder dem gesamten verfügbaren Wissen noch dem gesamten Wissen, sondern dem momentan nicht vergessenen Teil des verfügbaren Wissens.“ (Elflein 2008, S. 130)

      Elfleins grundsätzliche Überlegung zur Anwendung des Konzepts des Traditionsstroms auf die Populärmusik lässt sich in geradezu idealer Weise auf die in sich zeitlich geschlossene Ära des Rock and Roll übertragen. Sie bewahrt uns gleichzeitig vor den Problemen, die der Versuch einer Kanonbildung mit sich bringen würde. Auch die Fragestellung für die Suche nach den einflussreichsten und stilprägendsten Personalstilen und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre ist nun offensichtlich. Wir suchen nach einer Manifestation des Traditionsstroms der einflussreichsten und stilprägendsten Instrumentalparts der Rock and Roll-Gitarre.

      Für die Auswahl der zu untersuchenden Werke wurden bereits einige eingrenzende Kriterien erläutert und definiert (siehe1.b.). Die Auswahl soll den Zeitraum vom Beginn des Jahres 1954 bis zum Ausklang des Jahres 1960 umfassen. Berücksichtigt werden lediglich US-amerikanische Produktionen, das heißt Produktionen die auf dem Staatsgebiet der USA aufgenommen und dort im regulären Handel erhältlich waren. Ein wesentliches Kriterium, das die Auswahl im weiteren Verlauf der Untersuchung beträchtlich eingrenzt, ist die Bedingung, dass die Gitarre, vorzugsweise E-Gitarre, eine herausragende Position innerhalb der Produktion einnimmt, also als Soloinstrument in Erscheinung tritt oder zumindest charakteristische Anteile zum musikalischen Arrangement beisteuert.

      Die Zugehörigkeit zum Genre Rock and Roll wird bewusst nicht als Kriterium herangezogen, weil dies durch die Unschärfe des Genre-Begriffs (siehe 1a.)) in den meisten Fällen nicht zweifelsfrei zu belegen wäre. Die Entscheidung über die Zugehörigkeit wurde aus den zugrunde liegenden Quellen der Auswahl unkommentiert übernommen.

      Der Begriff Werk bzw. Titel bezeichnet in den folgenden Betrachtungen kommerzielle Schallplatten-Veröffentlichungen im Single-Format 45RPM aus Vinyl, zum Teil auch noch 78RPM aus Schellack. Insbesondere die ab dem Jahr 1949 von der Firma RCA eingeführte 45er-Single löste das Vorläufer-Format der 78er-Single bis ca. 1955/56 weitgehend ab und wurde im regulären Tonträgerhandel, bei Diskjockeys und in Jukeboxen zum etablierten Standard der amerikanischen Populärmusik (Dawson 2003). Longplayer-Veröffentlichungen (LPs) spielten hingegen im Genre Rock and Roll bis Anfang der 1960 Jahre keine bedeutende Rolle und werden daher ebenso wie der Sonderfall der Extended Plays (EPs: Singleformat mit zwei Titeln pro Seite) im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.

      Aufgrund der unter 2.1 zusammengefassten Überlegungen zum Thema kommunikatives Gedächtnis und Traditionsstrom wird im Folgenden der Versuch unternommen, eine Methode zu entwickeln, um eine Manifestation des Traditionsstroms der einflussreichsten und stilprägendsten Instrumentalparts der Rock and Roll-Gitarre zu erstellen.

      Eine Auswahl sollte einerseits normativen und formativen Anspruch haben und sich andererseits noch in Kommunikation befinden, also noch diskutiert werden und im Fluss sein (Assmann 1992). Um die Dynamik eines solchen noch aktiven Prozesses abzubilden, sollte daher sicher auf mehr als nur eine einzige Quelle zurückgegriffen werden. Mehrere Quellen sollten das Thema idealerweise aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln betrachten, damit sich mögliche Unterschiede in den Sichtweisen erkennbar im Datenmaterial niederschlagen. Alle Quellen sollten ernsthaft und kompetent aufbereitet und der Öffentlichkeit zugänglich, also in irgendeiner Art und Weise veröffentlicht worden sein um damit auch nachvollziehbar zu sein. Um die Veränderlichkeit eines solchen Prozesses im Lauf der Zeit abzubilden ist es von Vorteil, wenn die Entstehungsdaten der verschiedenen Quellen den Zeitraum von Beginn des vorliegenden Phänomens bis zur Jetztzeit möglichst breitflächig abdecken, also falls möglich die Zeit von Ende der 1950er Jahre bis 2010 umfassen.

      Aufgrund dieser Vorgaben wurden vier Kategorien mit jeweils zehn, insgesamt also 40 Listen gebildet. Die vier Kategorien unterteilen sich in:

      - Hörempfehlungen/Auswahldiskographien in populärwissenschaftlicher Literatur

      - Populäre Listen aus Fachzeitschriften und andere verbreitete Empfehlungslisten

      - Kompilierte Notenausgaben zum Thema Rock and Roll bzw. Rock and Roll-Gitarre

      - Kompilierte Tonträger zum Thema Rock and Roll bzw. Rock and Roll-Gitarre

      Die dafür herangezogenen und nach einer aufwändigen Sichtung ausgewählten Quellen entstammen sämtlich den Publikationen international etablierter und anerkannter Autoren, Verlage und Labels und beziehen sich meist bereits im Titel, zumindest aber im Untertitel dezidiert auf das Thema Rock and Roll. Schlagworte in allen erdenklichen Schreibweisen bei der Sammlung der Quellen in Bibliotheken, Literaturverzeichnissen, Verlagskatalogen, Internet usw. waren:

      „Rock and Roll“ (auch: „Rock’n’Roll“, „Rock & Roll“, „R&R“ usw.)

      „Guitar“ (auch: „Rockguitar“, „Rock Guitar“ usw.)

      „1950s“ (auch: „50s“, „Fifties“ usw.)

      Die territoriale Herkunft der Listen entspricht der thematischen Vorgabe, das heißt bis auf wenige begründete Ausnahmen entstammen die insgesamt 40 Listen dem US-amerikanischen Kulturraum. Ohne diese Einschränkung wäre es nahezu unmöglich, bezüglich der Herkunft der Listen eine Grenze zu ziehen. Neben naheliegenden, weil stark nach US-Amerika ausgerichteten Listen aus z.B. England und Deutschland, hätte man auch andere, weniger naheliegende Herkunftsländer wie Japan oder Indien berücksichtigen müssen, deren Listen sicherlich für die Rezeption des Rock and Rolls im jeweiligen Land von speziellem Interesse sein können, die aber die hier formulierte Fragestellung verzerren würden, weil dort mit großer Wahrscheinlichkeit Interpreten eine Rolle spielen, die im Ursprungsland der musikalischen Stilistik keine oder nur eine sehr geringe Rolle gespielt haben. Es folgen in tabellarischer Form die vier Kategorien von Quellen mit den jeweils zehn Listen, Angaben über Titel der Publikation, Autor, Jahr der ersten Erscheinung, Anzahl der genannten Musiktitel und ein Kommentar über Besonderheiten und Auffälligkeiten in der Art und Weise der Zusammenstellung.

TitelAutorJahrSongtitel
The Story of RockBelz1969231
The Sound of the CityGillett1970111
Stranded – Rock and Roll for a Desert IslandMarcus1979313
Unsung Heroes of Rock’n’RollTosches1984182
That old time Rock and RollAquila1989253
The Heart of Rock and SoulMarsh19891001
What was the first Rock and Roll Record?Dawson/Propes199150
The Classic Rock and Roll ReaderStudwell/Lonergan1999102
A History of RockScaruffi2002170
A brief history of Rock’n’RollJohnstone200748

      Eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des amerikanischen Musikstils Rock and Roll beginnt ab Ende der 1960er Jahre mit zwei kurz hintereinander veröffentlichten Büchern des Amerikaners Carls Belz und seines englischen Fachkollegen Charlie Gillett, der seinen Text im Rahmen einer Masterarbeit an der amerikanischen Columbia Universität in New York verfasste. Beide Autoren fügen ihren Büchern im Anhang jeweils umfangreiche und chronologisch geordnete Diskographien an („Selected Discography“ in Belz 1969, „Play List“ in Gillett 1970). Unter den in Frage kommenden Veröffentlichungen zum Thema galt es vor allem jene zu finden, die sich in irgendeiner Form auf eine Nennung von aus ihrer Sicht repräsentativen Titeln der Ära festlegen konnten oder wollten. Da dies nicht immer der Fall war, konnten einige naheliegende Werke namhafter Autoren (wie Colin Escott, Reebee Garofalo, Peter Guralnick, Arnold Shaw oder Jerry Wexler) nicht berücksichtigt werden. Die beiden letzten Listen stammen von dem seit 1983 in Kalifornien